
Notunterkünfte: so kurz wie möglich, so lange wie nötig
Abends an einem kalten Wintertag in ein gut beheiztes Zuhause zu kommen und sich mit einer Tasse Tee zu verkriechen, das ist ein Luxus, der für viele Menschen in Österreich selbstverständlich ist. Aber nicht für alle: Rund 23.000 Menschen waren im Jahr 2020 von Wohnungsnot betroffen, die Dunkelziffer ist hoch. Ausgebreitete Schlafsäcke inmitten von regem Einkaufstrubel in der Innenstadt können schon mal zum Nachdenken anregen, aber wieso in Österreich überhaupt Menschen auf der Straße leben, ist vorerst unklar.
Was ist Wohnungsnot?
Wohnungsnot hat viele Gesichter und Obdachlosigkeit ist nicht dasselbe wie Wohnungslosigkeit. Obdachlos sind jene Menschen, die ohne Unterkunft leben und auf der Straße, in Abrissbauten oder unter der Brücke wohnen. Wohnungslos hingegen bedeutet, dass sich die Betroffenen in einer prekären Wohnsituation befinden und bei Freunden, Bekannten oder in Beherbergungsbetrieben unterkommen, in denen sie jederzeit weggewiesen werden können.
Auch in Graz gibt es Menschen, die obdachlos sind. Die genaue Anzahl der Betroffenen ist schwierig abzuschätzen. Über die Möglichkeiten, die es in Graz für die Betroffenen gibt, die Gründe aus denen Menschen das Dach über dem Kopf verlieren sowie woran es liegen könnte, dass trotz verfügbarer Notschlafstellen Menschen weiterhin auf der Straße leben, haben Andreas Kleinegger, Leiter der Einrichtung „VinziTel“ und des Nachbetreuungsprojekts „Soldio“, und Svjetlana Wisiak, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der VinziWerke in einem Interview mit Kenne deine Rechte gesprochen. Die VinziWerke sind nach eigenen Angaben eine „Nachgeh- und Hingehgemeinschaft“, die österreichweit, aber auch in der in der slowakischen Gemeinde Hostice Hilfe für Menschen in Not anbietet.
Welche Unterkunftsmöglichkeiten gibt es in Graz?
Allein die Vinzenzgemeinschaft stellt in Graz 220 Plätze für Menschen in Not zur Verfügung. Das Angebot reicht von Dauerherbergen wie beispielsweise dem „VinziDorf“ über Notschlafstellen wie dem „VinziNest“ oder „VinziSchutz“ bis hin zu Einrichtungen, in denen Menschen auch tagsüber verweilen können, dem „VinziTel“ oder dem „Haus Rosalie“.
Neben den Angeboten der VinziWerke gibt es Angebote der Caritas, wie beispielsweise die „Arche38“, das „Haus FranzisCa“ oder das „Schlupfhaus“.
In besonders kalten Wintermonaten werden zusätzliche Notschlafstellen in der Stadt Graz geöffnet. Stadtweit wird dann von der Vinzenzgemeinschaft, der Caritas und der Stadt Graz verstärkt dafür gesorgt, dass Menschen, die auf der Straße leben, dort unterkommen können.
Wie sieht die Arbeit in einer Einrichtung für Menschen, die von Wohnungsnot betroffen sind, aus?
Andreas Kleinegger ist Leiter des VinziTels, einer Notschlafstelle in Graz mit Hotelcharakter und 24-stündiger Aufnahmemöglichkeit. Es gibt Platz für 25 Gäste. Anders als in anderen Notschlafstellen können die Bewohner:innen auch tagsüber, somit insgesamt 24 Stunden im Haus bleiben. Dieses Konzept kombiniert mit der Tatsache, dass neben Frauen* und Männern* auch Paare im VinziTel Unterschlupf finden, macht das VinziTel steiermarkweit einzigartig. Neben Andreas Kleinegger gibt es zwei angestellte Sozialarbeiterinnen und rund 35 ehrenamtliche Mitarbeiter:innen, welche die Einrichtung am Laufen halten.
„Uns ist wichtig, dass niemand auf der Straße, auf einer Bank, unter der Brücke oder sonst wo schlafen muss und Menschen, die vor der Tür stehen, egal wann, aufgenommen werden.“, schildert Herr Kleinegger. Wenn am Abend oder in der Nacht jemand vor der Tür stehe, werde die jeweilige Person aufgenommen und am nächsten Werktag an die richtige Einrichtung weitervermittelt. Hier sei man in der komfortablen Lage, dass es in Graz im Vergleich zu anderen Städten genügend Notschlafstellen für unterschiedliche Bedürfnisse gäbe.
In der Zeit, in der die Gäste da sind, werde überlegt, was die Gründe sind, warum jemand „andockt“ und wo geholfen werden kann. Diese Hilfe äußere sich oftmals in Form von Unterstützung in den Bereichen Geld, Gesundheit oder Wohnungssuche.
Ab und an gäbe es auch unerwartete, schwierige Themen wie psychische Probleme von Gästen oder Polizeibesuche. Allerdings sei es meistens sehr ruhig und die Klischeevorstellung, dass es in Notunterkünften Gewalt gäbe, sei Blödsinn, denn die betroffenen Menschen könnten sehr gut mit schwierigen Situationen sowie miteinander umgehen. Gewalt sei im VinziTel ein marginales Thema. Maximal werde mal jemand laut, aber Raufereien habe es im gesamten Berufsleben von Andreas Kleinegger noch nie gegeben.
„Besondere Anlässe wie Weihnachten, Ostern oder Fasching werden in allen Einrichtungen der VinziWerke begangen“, beschreibt Svjetlana Wisiak, „Das ist auch ein großer Teil von Zuhause und Menschen ohne feste Unterkunft sollen diesen nicht missen.“ Andreas Kleinegger erzählt: „Der 24.12. ist einer der schönsten Tage, da kochen die Mitarbeiter:innen das Weihnachtsessen und es wird gesungen.“
Wer ist betroffen?
Allgemein gilt, dass mehr Männer von Wohnungsnot betroffen sind als Frauen, wobei es bei Frauen oftmals zu sogenannter „verdeckter Wohnungsnot“ kommt, die nicht in Statistiken aufscheint. Diese bezeichnet prekäre Wohnverhältnisse ohne mietrechtliche Absicherung meistens in Kombination mit Abhängigkeitsverhältnissen materieller und persönlicher Art. (Quelle: neunerhaus.at)
Die Lebensbiografien der von Wohnungsnot Betroffenen seien laut Andreas Kleinegger ganz unterschiedlich: Manchmal kämen die Menschen aus permanenter wirtschaftlicher Armut. Aber auch kurze Perioden der Arbeitslosigkeit könnten zum Nichtbezahlen von Mieten und anschließenden Delogierungsverfahren führen. An so einem Punkt würden sich die Betroffenen oft nicht mehr hinaussehen und würden nicht aktiv. Manche Personen, die in den Einrichtungen der VinziWerke unterkommen, hätten auch schon ihr Leben lang mit Alkohol- oder Drogenproblemen zu kämpfen. Auch psychische Erkrankungen spielten oft eine Rolle. Seltener seien Spielsucht oder Wegweisung.
Grundsätzlich kann es jeden Menschen treffen. „Es gab auch oft schon 75- bis 80-jährige Männer, die in hohem Alter erst wohnungslos geworden und dann im VinziTel untergekommen sind.“, meint Kleinegger.
Wie hoch ist die Auslastung in den Notschlafstellen?
Nach Aussage der beiden Mitarbeiter:innen läge die Auslastung der Vinzenzgemeinschaft normalerweise bei 90% bis annähernd 100% in allen Einrichtungen.
Eine Auslastung von 100% ist laut Andreas Kleinegger aber lediglich eine Zahl. Am Beispiel des VinziTels erklärt er, was damit gemeint ist: „Wenn 24 Personen im Haus sein (25 minus 1 Quarantänezimmer) und wieder jemand anläutet, dann gibt es zwei Notbetten und zwei Klappbetten. Das VinziTel musste also bislang noch niemanden wegen Platzmangel abweisen. Ähnlich ist es auch in den anderen Einrichtungen.“
Aus welchen Gründen leben Menschen trotz ausreichendem Angebot weiterhin auf der Straße?
Ebenso wie die Gründe, warum jemand auf der Straße landet, sind auch die Gründe, warum Menschen nicht in eine Notschlafstelle gehen vielfältig:
Es kann vorkommen, dass es Menschen aufgrund von psychischen Erkrankungen nicht lange in Notschlafstellen aushalten. Auch Zwei- oder Mehrbettzimmer, die es manchmal gibt, können dazu führen, dass es für Personen zu eng oder zu viel wird.
Manche Menschen wissen noch gar nicht, dass es Notschlafstellen gibt, weil sie noch nicht lange in Graz sind.
Ein weiterer Grund dafür, dass sich Menschen dafür entscheiden, keine Notschlafstelle aufzusuchen, ist, dass Personen, die auf der Straße leben, oftmals Hundebesitzer sind. Die vierbeinigen Begleiter dürfen in vielen Notschlafstellen nicht mitgenommen werden. Dieses Problem wurde in Graz schon vor einigen Jahren erkannt und seit Winter 2019/20 gibt es bei der Caritas in der Arche38 eine Möglichkeit, dass Obdachlose gemeinsam mit ihren Haustieren Unterschlupf finden.
Früher war auch Alkoholkonsum ein Thema, meinen Svjetlana Wisiak und Andreas Kleinegger. In Notunterkünften gab es lange Zeit ein Alkoholverbot. Das VinziDorf habe in diesem Bereich zur Zeit der Gründung 1993 erstmals gesagt: „Wir nehmen euch so auf wie ihr seid.“ Heute sei das eher „common sense“. Die Realität habe gezeigt, dass es gerade bei Alkoholsucht andere Zugänge brauche, die die Menschen dort abholen, wo sie gerade stehen. Hier arbeite man eng mit verschiedenen Beratungsstellen zusammen.
Um zu verhindern, dass jemand trotz der verfügbaren Schlafstellen auf der Straße lebt, würden die bestehenden Angebote immer wieder an die Betroffenen herangetragen, obwohl natürlich niemand gezwungen werde, eine Notschlafstelle aufzusuchen.
Wie lange bleiben Betroffene normalerweise im VinziTel?
Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im VinziTel beträgt 31 bis 32 Tage. Es gibt auch Personen, die nur eine Nacht im VinziTel verbringen.
Die Richtlinie, dass Menschen bis zu drei Monate bleiben können, sei eben nur eine Richtlinie. Sie bedeute lediglich, dass nach dieser Zeit abgewogen werde, wie es dann nach dem VinziTel weitergehen könne, oder ob es noch mehr Zeit brauche, um eine konkrete Zukunftsvision zu entwickeln.
Wenn weiterer Bedarf bestehe, sei es auch möglich, dass Gäste acht bis neun Monate im VinziTel bleiben, bis sie mit ausreichender Unterstützung eine Wohnung finden. „Das ist die Schwierigkeit, aus einer Notschlafstelle heraus eine reguläre Wohnung mit Mietvertrag zu bekommen.“, erklärt Kleinegger.
Es gibt auch Menschen, die mehrmals im VinziTel unterkommen. Auf die Straße geht nach dem VinziTel und anderen Einrichtungen der Vinzenzgemeinschaft zwar niemand, allerdings waren im vorletzten Jahr ca. 40% derer, die im VinziTel angedockt haben, schon einmal Gast. Das sei einerseits gut, da das VinziTel als Möglichkeit wahrgenommen werde, wohin man zurückkehren kann. Andererseits sei es ein Teufelskreis, wenn Menschen, die schon einmal im VinziTel waren und eine Wohnung gefunden haben, wieder delogiert werden. Diesen Teufelskreis wolle das Team unterbrechen. Darum habe Andreas Kleinegger 2017 mit einer Kollegin das Projekt „Solido“ ins Leben gerufen, welches nach der Wohnungssuche auch weitere Hilfe anbietet, beispielsweise wenn es Schwierigkeiten beim Bezahlen der Miete gibt. Damit soll eine beständige Wohnsituation gewährleistet werden, denn eine permanente Privatwohnung trage auch zur Stabilisierung des psychischen Zustandes bei.
Abgesehen vom VinziTel gibt es auch Dauerherbergen wie das VinziDorf mit dem Leitspruch „Zuhause bis zuletzt“. Die Bewohner sind Großteils alkoholkranke Männer, die ihr Leben lang bleiben können. Im VinziLife dürfen psychisch belastete Frauen so lange bleiben, wie sie möchten. Prinzipiell gilt für die VinziWerke: „So kurz wie möglich, so lange wie nötig“. Kein Enddatum wird darauf gestempelt. Es soll keinen inneren Druck geben, dass man raus muss, denn Wohnen ist ein Menschenrecht.
Was muss sich verbessern, um Wohnungsnot zu reduzieren?
„Die Arbeit der VinziWerke umfasst viel mehr als das Betreiben von Notschlafstellen“, meint Svjetlana Wisiak. Das ultimative Ziel sei, dass es die VinziWerke eines Tages nicht mehr benötige. Es brauche nicht nur ausreichenden, sondern auch genügend leistbaren Wohnraum. Es gäbe immer noch Menschen, die am Rande der Existenzbedrohung leben. Für sie kann es bereits das finanzielle Aus bedeuten, wenn eine Waschmaschine kaputt wird. Dementsprechend müssten soziale Unterstützungsangebote zunehmen. Außerdem solle man auch die Gründe nicht vergessen, warum Menschen schlussendlich in Wohnungsnot rutschen. Es müsste ein ausreichendes finanzierbares Angebot an Beratungsstellen und Begleitung für Menschen mit psychischen Belastungen oder Suchtkrankheiten geben.
„Bis es in diesen Bereichen keine Probleme mehr gibt“, meint Frau Wisiak, „gilt: Es wird uns geben, solange es uns braucht.“
Wer in den kalten Monaten den Schlafplatz eines obdachlosen Menschen sieht, kann dies beim Kältetelefon der Caritas bekanntgeben und somit für rasche Akuthilfe sorgen (Unterbringung in einer Notunterkunft oder Not-Paket bei Ablehnung dieser): 0676 88015 8111 (täglich 18:00 bis 24:00 Uhr)
Weiterführende Links
https://www.vinzi.at/ueber-uns/
https://www.caritas-steiermark.at/hilfe-angebote/wohnen-unterkuenfte/notschlafstellen