Kenne deine Rechte

Aufgeben ist keine Option


Es ist ein kalter Wintertag. Ich bin in einen dicken Wintermantel eingepackt, ziehe meine Kapuze tief ins Gesicht und verstecke meine Hände in den Jackentaschen. Der Wind trifft mich dennoch wie ein eisiger Schlag ins Gesicht. Auf dem kurzen Weg zur U-Bahn-Haltestelle erfriere ich beinahe – hätte ich mich noch wärmer für diesen Ausflug anziehen sollen? Ich werde jetzt auf dem Weg nach Hirschstetten, im 22. Bezirk im Nordosten Wiens gelegen, auf jeden Fall genug Zeit haben, um mich wieder aufzuwärmen. Also, Kopfhörer auf, Musik ein und Buch raus. Als ich das nächste Mal wieder von meinem Buch hochblicke, ist die Welt eine völlig andere. Es gibt hier auf einmal keine Gebäudeschluchten mehr, hier reihen sich nicht mehrstöckige Wohnhäuser an mehrstöckige Wohnhäuser und die Tiere hier sind nicht nur Hunde an der Leine. Auf einmal sehe ich Felder und Wiesen, Einfamilienhäuser mit Garten und wilde Rehe – das alles innerhalb der Wiener Stadtgrenze. Es scheint hier so idyllisch, so friedvoll, so ruhig zu sein – und hier will die Stadtregierung Straßen hinbauen?

Seit den 70er Jahren geistert die Idee einer „Lobau-Autobahn“ herum. Rund um das Jahr 2000 wurden dann konkrete Pläne erarbeitet, die einen Ausbau der S1 mit einem Tunnel unter der Lobau – einem Teil des Nationalparks Donauauen im Osten Wiens – vorsahen. Gepaart mit einer vierspurigen „Stadtstraße“ soll der Nordosten Wiens als Wirtschaftsstandort und Wohnort attraktiver gemacht werden, während der Durchzugsverkehr der Pendler:innen und Lastwägen aus den Wohngebieten gehalten werden soll. Dieses Unternehmen wäre strengsten Umweltverträglichkeitsprüfungen unterzogen worden, so die Stadt Wien. Expert:innen haben jedoch ihre Bedenken an diesem Projekt. Nicht nur würde der Tunnel mitsamt Stadtstraße tiefe Eingriffe in die Natur bedeuten und potenziell nur noch mehr Autos anziehen, dieses Vorhaben sei, nach Angaben vom Forum Wissenschaft & Umwelt, nicht mit den Klimazielen Österreichs – Erreichen der Klimaneutralität bis 2040 – vereinbar. Trotz heftiger Kritik von Expert:innen und Bevölkerung drängte die SPÖ Wien unter Michael Ludwig zu einem Baustart im Spätsommer 2021. Aktivist:innen von einigen bekannten Organisationen wie Fridays For Future, Extinction Rebellion oder System Change, not Climate Change beschlossen daraufhin Ende August die Baustellen der geplanten Stadtstraße zu besetzen und machen das bis heute, entgegen jeglichem Widerstand von Wetter, Politiker:innen oder Feind:innen. Neben eisig kalten Nächten und Klagsdrohungen der Stadt Wien, wurden die Klimaaktivist:innen mit Jahresende auch zu Opfern eines Brandanschlags. Gegen zwei Uhr früh wurde eine der winterfesten Hütten mithilfe eines Brandbeschleunigers in Brand gesetzt. Die dreistöckige Unterkunft stand binnen weniger Sekunden lichterloh in Flammen. Glücklicherweise haben die Aktivist:innen die Situation rechtzeitig erkannt und konnten so unverletzt davonkommen. Trotz dieses Widerstands und Gegenwinds scheint eine Kapitulation der Aktivist:innen höchst unwahrscheinlich.

Unter diesen Umweltaktivist:innen ist auch Isi. Die Jus-Studentin ist durch ihr Engagement bei Greenpeace auf dieses Thema gestoßen. Grundsätzlich sind Tierrechte ihr Herzensanliegen und sie sei auch keine „Autohasserin“, denn sie lebt normalerweise in ihrem eigenem Van. Auch wenn sie eigentlich gerne im Amazonas kämpfen würde, zeigt sie höchsten Einsatz auf der Stadtstraße-Baustelle, die liebevollerweise „Wüste“ genannt wird. Seit September ist sie Mitglied der Bewegung und wohnt seit knapp zwei Monaten schon fast ununterbrochen in der winterfesten Hütte, die treffend „Pyramide“ getauft wurde. Um dies möglich zu machen, kündigte sie ihren Job im Logistik-Bereich, denn „es ging sich einfach nicht aus; außerdem wollte ich das zerstörerische, kapitalistische System nicht noch weiter unterstützen“, meinte sie. Großes Anliegen ist ihr, einmal sagen zu können, dass sie alles gegeben und auf der richtigen Seite gekämpft hat. „Ich fühle mich manchmal wie auf einem Boot, das auf einen Wasserfall zusteuert – alle wissen das, trotzdem paddeln sie einfach weiter und nur ein paar wenige versuchen dagegen anzukämpfen und die anderen aufzuwecken.“, beschreibt sie ihr Empfinden der Situation, in der die Menschheit sich gerade befindet. Vor allem stört sie das Nichtstun der „schlafenden Bevölkerung“. Aber auch die Stimmung in den Lagern ist seit dem Brandanschlag auf eine der Hütten auf der zweiten besetzten Baustelle auf der Hirschstettner Straße sehr angespannt. Isi meint dazu, dass dies schon mittelalterliche Zustände annehme, wo jede:r jede:n aufgrund einer Meinungsverschiedenheit angreift. Mit den gewaltverherrlichenden Aussagen gewisser Politiker:innen als Reaktion auf die „Mordanschläge“, träge die Politik in ihren Augen auch einen gewissen Teil dazu bei. Sie meinte auch, dass sie sich „an der Kippe zum Bürgerkrieg“ fühle, wo eine Provokation ausreiche, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Dies wurde ihr besonders bei den Aufräumarbeiten im anderen Lager bewusst, als vorbeifahrende Autofahrer:innen ihr und den anderen provokative, hasserfüllte und beleidigende Sprüche zuriefen.

  • ‚Der Anfang‘. Das Hauptlager und angemeldete Protestcamp befindet sich in der Anfanggasse. Ein passender Name – doch welchen Anfang kündigt er an? Den Anfang von etwas Neuem, von einer besseren, lebenswerten Zukunft, oder den Anfang vom Ende?

Doch alle bösen Unterstellungen, Beleidigungen und Angriffe können ihr nichts anhaben: „Aufgeben ist keine Option! Wir haben nichts zu verlieren außer die Zukunft der Erde“, und dafür lohnt es sich mit allen Mitteln zu kämpfen, wenn es darauf ankommt. Dafür lohne es sich, mit illegalen Mitteln eine Baustelle zu besetzen. Vor allem der Zuspruch von oft vorbeischauenden Anrainer:innen, Politiker:innen, Journalist:innen, Studierenden und vielen weiteren Unterstützer:innen gibt ihr Mut und bestätigt sie in ihrem Engagement, in ihrem selbstproklamierten „Größenwahnsinn“. Denn die Verhinderung des Baus der „Stadtstraße“ und der „Lobau-Autobahn“ sind nicht die einzigen Ziele, die von den Aktvist:innen verfolgt werden. Das ultimative Ziel, das auch in großen Lettern auf der Pyramide außen steht, ist eine Mobilitätswende. Diese Mobilitätswende soll von der Wüste, die zu einem dauerhaften Öko-Dorf werden soll, ausgehen und die Pyramide soll weltweit als Beispiel, Symbol und Mahnmal für eine erfolgreiche Klimarevolution stehen. „Die Leute müssen endlich aufwachen“, sagt Isi. Der motorisierte Individualverkehr sei ein großes Problem für die Natur. Um die Klimakrise abzuwenden und ein lebenswertes Fortbestehen für Tier und Mensch zu ermöglichen, müsse die weitere Attraktivierung des Autoverkehrs gestoppt werden. Die massive Bodenversiegelung und damit einhergehend die Zerstörung von sensiblen Ökosystemen führe zu einem erheblichen Biodiversitätsverlust durch das Aussterben von bedrohten Spezies. Die Klimakrise gehe alle etwas an, daher müsse man die Menschen aufklären und motivieren, sich für ihren Planeten einzusetzen, egal von welchem Hintergrund oder politischem Spektrum sie kommen. So sei es also eine ihrer wichtigsten Aufgaben in der Wüste, die vorbeikommenden Fremden zu informieren und zu überzeugen.

„Das Leben in der Wüste“, sagt Isi, „ist manchmal wie so ein soziales Experiment.“ Kochen, Abwaschen, Bauen, Besucher:innen unterhalten oder Strategien erarbeiten, die täglichen Aufgaben sind zahlreich. Daher soll es sehr bereichernd sein, da man täglich selbst entscheiden kann, worauf man „gerade so Lust hat“. So kann man an einem Tag einen Workshop zum Schweißen besuchen, am nächsten erarbeitet man ein neues Banner und am dritten Tag konzentriert man sich auf das Studium. Diese Einstellung und Handhabung setzen der freien Entfaltung keine Grenzen. Dadurch sei trotz all der Anspannungen vor drohenden Gefahren die Stimmung an abendlichen Lagerfeuern durchaus fröhlich und freundschaftlich. Dieses Gefühl bekomme ich auch als Außenstehender. Die freundschaftlichen Sticheleien, das neugierige Dazusetzen bei Gesprächen mit vollkommen Fremden und der allgemeine, gemütliche und fast schon heimelige Flair bestätigen, dass die anwesenden Aktivist:innen in derselben Sache geeint sind und dadurch Seite an Seite stehen. Die täglichen Gespräche mit Gästen, die von Zwölfjährigen über Hainburg-Veteran:innen, Journalist:innen, Politiker:innen, Musiker:innen, Professor:innen bis hin zu Wissenschaftler:innen und Komiker:innen reichen, würden Isis Horizont erweitern. „Jeder Tag ist ein Erlebnis, da geht vieles leider auch unter oder man kann es gar nicht so wertschätzen.“ Besondere Erinnerungen, wie sie mir mit einem großen Lächeln im Gesicht erzählte, hat sie von jenem Tag, an dem das Lager von der Polizei geräumt hätte werden sollen. Es lag knöchelhoch Schnee und als die Polizei kam, kletterte sie auf die Pyramide hoch und hisste die Flagge, die auch heute noch auf der Pyramide weht. „Max.1,5° C – Keine Beton-Wüsten in Wien“, steht dort zu lesen.

Während sich die Sonne nun über dem Camp legt, mache ich mich auf den langen Weg nach Hause. In meinem Kopf schwirren die in den vergangenen Stunden gehörten Forderungen, Ideen und Vorstellungen umher und alle sagen sie mir dasselbe: keine Straßen mehr und endlich ein Ausbau des öffentlichen Verkehrs- sowie Fuß- und Radwegangebots. Ich sitze wieder in der U-Bahn, dieses Mal ohne Buch, ohne Musik, ohne Ablenkung. Schweigend mache ich mir Gedanken, was aus dieser Gegend in naher Zukunft werden wird. Bleibt sie so idyllisch, so friedvoll, so schön, oder verkommt sie durch ein Straßenbau-Projekt aus dem vergangenen Jahrhundert? Während das Sonnenlicht über der Wüste knapper wird, die Aktivist:innen sich auf eine weitere Nacht vorbereiten und die Autos kilometerweit Stoßstange an Stoßstange stehen, fahre ich gedankenversunken mit der Zukunft des Personenverkehrs in die Nacht.

Die Fotos in hochauflösendem Format gibt es hier.


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