Kenne deine Rechte

Ein Tag im Rollstuhl


Menschen mit Behinderung stoßen in ihrem Alltag immer wieder auf Hindernisse und Diskriminierung. Wie sich das als Betroffene:r anfühlt, konnte das KdR-Redaktionsteam hautnah im Zuge des Workshops „Ein Tag im Rollstuhl“ am 20. August 2021 erleben.

„Die Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, wie sie mit den Schwächsten umgeht.“ Heinz Sailer ist kaum zu bremsen, wenn er von seinem Herzensanliegen spricht. Mit 17 Jahren erlitt der gelernte Landmaschinenmechaniker infolge eines Autounfalls eine komplette Querschnittlähmung und sitzt seit über 38 Jahren im Rollstuhl. Nun setzt sich Heinz dafür ein, die Gesellschaft verstärkt für Anliegen von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren. Denn, wie er betont: „Ich bin nicht behindert, ich werde behindert.“

Dieses Behindert-Werden passiert in mehrfacher Weise. Für Menschen, die wie Heinz im Rollstuhl sitzen, sind alltägliche Aktivitäten oftmals mit Barrieren verbunden – im wahrsten Sinne des Wortes. Ungenügend breite Türstöcke, fehlende Rampen, verbarrikadierte WCs – all das kann sich für Rollstuhlfahrer:innen als Hindernis erweisen. Solche Hindernisse konnte das KdR-Redaktionsteam beim Sensibilisierungsworkshop „Ein Tag im Rollstuhl“ selbst aktiv erleben. Unter der Führung von Heinz Sailer erkundeten wir Graz im Rollstuhl und konnten am eigenen Leib erfahren, was fehlende Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung bedeutet. „Dabei hat sich mittlerweile schon sehr vieles zum Richtigen gewandelt“, erklärt Heinz.

Tatsächlich ist seit Heinz‘ Unfall in den 80er Jahren einiges passiert. Damals stand die Behindertenbewegung noch an ihrem Anfang. Für Menschen mit Behinderung gab es kaum gesetzliche Möglichkeiten, sich gegen Diskriminierung zu wehren. Erst 1990 wurde das Bundesbehindertengesetz in Österreich beschlossen, 2005 Diskriminierung am Arbeitsplatz durch das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz verboten und die UN-Behindertenrechtskonvention 2008 von Österreich ratifiziert. Auch sahen sich Menschen mit Behinderung sozial oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt. „Weil die Leute nicht mit Menschen mit Behinderung umgehen konnten, haben sie dich teils psychisch ausradiert. Dir wurde das Gefühl gegeben, dass du überflüssig bist“, erzählt Heinz über seine ersten Jahre im Rollstuhl. Mittlerweile habe sich aber vor allem durch die bessere berufliche Integration von Menschen mit Behinderung viel getan. Dennoch gäbe es bei vielen Menschen noch Berührungsängste. Sie seien unsicher im Umgang mit Menschen mit Behinderung.

Diese Unsicherheit zeigt sich auch in unserer Stadtrundfahrt. Manche weichen unseren Blicken gänzlich aus, andere starren uns an. Immer wieder bemerken wir, wie uns Menschen mitleidige Blicke zuwerfen. Auch stoßen wir auf Hindernisse, die für Menschen mit voller Bewegungsfähigkeit nahezu unsichtbar sind: zu hohe Gehsteigkanten, Stufen am Eingang von Geschäften, zu hoch platzierte Bankomaten. Die UN-Behindertenrechtskonvention sollte eigentlich das Aus für solche Barrieren bedeuten. De facto ist Barrierefreiheit aber nach wie vor ein unerreichtes Ideal, und zwar selbst dort, wo es einfach möglich wäre. So müssen wir vor einem traditionsreichen Grazer Eisbetrieb ohne Waffel in der Hand wieder umkehren – mangels einer Rampe ist die Stufe am Eingang nicht zu bewältigen.

„Da kann man nur wieder versuchen, die zu schlichten“, witzelt Heinz, klingt dabei aber ein wenig ernüchtert. Als Vorsitzender des Unabhängigen Steiermärkischen Monitoringausschuss zur Überwachung der Umsetzung und Einhaltung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat er schon so einige Schlichtungsverfahren hinter sich. Solche Verfahren sollen ermöglichen, Fälle von Diskriminierung außergerichtlich zu einer Lösung zu bringen. Wird keine Lösung gefunden, kann vor Gericht geklagt werden – allerdings nicht auf die Beseitigung der Barriere, sondern lediglich auf Schadenersatz. „Das ist manchmal mühsam, aber nur wenn man lästig bleibt, kann etwas erreicht werden“, betont Heinz.

Dabei ist Barrierefreiheit nicht nur für Menschen mit Behinderung wichtig. „Menschen mit Behinderung sind in gewissem Sinne Vorreiter“, ist Heinz überzeugt. Denn auch Menschen ohne Behinderung würden im Alter oder infolge von Krankheiten von Maßnahmen profitieren, die primär für Menschen mit Behinderung getroffen werden. Seien es Lifte in Mehrparteienhäusern, Lesehilfen für Menschen mit Sehbehinderung oder Informationen in einfacher Sprache – all das erleichtere nicht nur das Leben von Menschen mit Behinderung. Noch sei dieser Fakt aber zu wenig im kollektiven Bewusstsein verankert.

Trotz aller Schwierigkeiten gibt es für den 56-Jährigen aber auch immer wieder Erfolgsmomente und positiv stimmende Begegnungen. So ist die Steiermark in Sachen Inklusion von Menschen mit Behinderung in vielen Belangen Vorreiter. Es existiert nicht nur ein unabhängiger Monitoringausschuss, sondern auch ein persönliches Budget für Menschen mit Behinderung, das Erleichterungen im Alltag ermöglichen soll. Auch im Schulbereich gilt die Steiermark als Vorzeigebundesland, das die Inklusion von Kindern mit Behinderungen in Regelklassen besonders forciert. „Und Graz ist einfach echt lässig“, stellt Heinz fest und illustriert die Hilfsbereitschaft der Menschen hier anhand einer Begebenheit: Als er an einem regnerischen Tag aus dem Rollstuhl fällt und auf dem harten Gehsteig zu liegen kommt, bremst ein Autofahrer, ohne zu zögern, springt aus dem Wagen und hilft Heinz zurück in den Rollstuhl. Es seien Momente wie diese, die Hoffnung machen. Denn: „Wir müssen auch andere Barrieren abbauen – die beim Umgang miteinander.“

Zentral für das Abbauen dieser Barrieren und Hemmschwellen ist das Auseinandersetzen mit anderen Menschen und ihrer Lebensrealität. Zu verstehen, wie es ist, tagtäglich aufgrund einer Behinderung im Alltag eingeschränkt zu werden. Uns einen Tag lang in einen Rollstuhl zu setzen und Barrieren, die wir sonst selbst nicht sehen oder über die wir höchstens sprechen, auch hautnah zu erleben, hat gerade das getan: uns die Lebensrealität von Menschen im Rollstuhl unmittelbar vor Augen geführt und gezeigt, auf welche – für Menschen ohne Behinderung unsichtbare – Hindernisse und Diskriminierungen Menschen mit Behinderung stoßen.

Hier geht es zur Galerie:

Ein riesiges Dankeschön an den Orthopädie- und Sanitätsfachhandel CuraSan für die freundliche Unterstützung und die Bereitstellung der Rollstühle!

 

Weiterführende Links

UN-Behindertenrechtskonvention (Broschüre Sozialministerium): https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=19

Geschichte der Behindertenbewegung in Österreich: http://bidok.uibk.ac.at/projekte/behindertenbewegung/zeitleiste.html

Barrierefreie Restaurants und Cafés in Graz: https://www.graztourismus.at/de/gut-zu-wissen/graz-barrierefrei/essen-und-trinken


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