
Rechtsstaat Österreich – angezählt, aber noch nicht K.O.
Das sich aus der Bundesverfassung ergebende rechtsstaatliche Prinzip soll Willkür bei der Anwendung staatlicher Gewalt verhindern, die Freiheit und die Würde aller sichern und jeden in seinen Rechten schützen. So definiert die österreichische Richter:innenvereinigung eines der wichtigsten Prinzipien unserer Demokratie. Um zu sehen, wie schnell dieses untergraben werden kann, ist ein Blick über Österreichs Landesgrenzen hinweg möglicherweise gar nicht mehr vonnöten. Angesichts der jüngsten Angriffe auf Justiz und Parlament stellt sich die Frage: steht unser Rechtsstaat auf wackligen Säulen?
Im Kontext der aktuellen innenpolitischen Entwicklungen liest sich die eben zitierte, aufschlussreiche, weil ohne juristische Fachtermini auskommende Definition der Rechtsstaatlichkeit auf der Website der Richter:innenvereinigung wie eine Mahnung. Das hängt vor allem mit einem kürzlich erschienenen Interview der Präsidentin der Richter:innenvereinigung, Sabine Matejka, zusammen, in dem sie direkt auf Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) Bezug nahm und diesem einen Mangel an Respekt vor dem Rechtsstaat vorwarf. „Von Regierenden kann man erwarten, dass sie den Rechtsstaat stärken und nicht durch fragwürdige Verdächtigungen schwächen“, so Matejka.
Wir erinnern uns – erstmals in der Geschichte der 2. Republik musste der VfGH zur ultima ratio greifen, um ein Erkenntnis (bei dem es nicht bloß um eine Geldleistung ging) durchzusetzen und beantragte beim Bundespräsidenten Exekution gegen Blümel. Dieser Vorfall kann als Spitze des Eisbergs einer Reihe von verbalen Seitenhieben gegen Justiz und Parlament bezeichnet werden. Auch der Verfassungsjurist Heinz Mayer beanstandete daraufhin, dass für die ÖVP der Rechtsstaat ein Fremdwort sei.
Dass Rechtsstaatlichkeit selbst in der EU, zu deren Beitritt die Rechtsstaatlichkeit eigentlich Bedingung ist, nicht selbstverständlich ist, beweist ein Blick nach Ungarn und Polen. Die dortige Einflussnahme der Regierung auf Institutionen des Rechtsstaats entspricht schon lange nicht mehr den demokratischen Werten, die der Willkür der Machthabenden Einhalt gebieten sollte. Doch wo steht Österreich im Vergleich zu diesen Negativbeispielen?
Wie Demokratien sterben
In ihrem Buch „How Democracies Die” beschreiben die US-amerikanischen Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt aus politikwissenschaftlicher und historischer Sicht, mit welchen Instrumenten Autokraten an die Macht kommen und ziehen hierfür den bildlichen Vergleich zu einem Fußballspiel. Der einfachste Weg zu gewinnen sei es die Schiedsrichter auf seine Seite zu ziehen, die besten Spieler:innen des Gegnerteams zu eliminieren und die Regeln zum eigenen Vorteil zu ändern. Bemerkenswerterweise geschieht diese Machtergreifung nämlich heutzutage in seltenen Fällen durch einen gewaltsamen Putsch. Vielmehr werden diese Personen auf demokratischen Weg gewählt und versuchen aus dieser Position heraus das demokratische System von innen zu zerstören.
Ein entscheidender Schritt auf diesem Weg ist die Delegitimierung von parlamentarischer und justizieller Kontrolle, sowie der politischen Gegner. Dies gelang Viktor Orban in Ungarn etwa indem er die Zahl an Richter:innen am Verfassungsgericht von acht auf 15 erhöhte. Die so freigewordenen Stellen, und damit die Schiedsrichter um bei der angedeuteten Metapher zu bleiben, wurden mit Loyalisten besetzt. In Polen verweigerte die Regierung in einem verfassungsrechtlich zweifelhaften Akt die Angelobung von drei Verfassungsrichter:innen und nominierte stattdessen fünf Richter:innen neu. Mit dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit wurden die Spielregeln letztlich so geändert, dass eine Mehrheit an den regierungstreuen Richter:innen vorbei faktisch unmöglich wurde.
Wehret den Anfängen
Zwar hat es in Österreich noch keine Regierung gewagt, einen derartigen Umbruch des Rechtsstaats in Angriff zu nehmen; diese Beispiele verdeutlichen aber, dass selbst intakte demokratische Verfassungen nicht unter allen Umständen in der Lage sind Attacken auf den Rechtsstaat abzuwehren. Um eine solche Untergrabung der staatlichen Kontrolle vor der Bevölkerung zu rechtfertigen, ist es wohl zunächst unerlässlich die rechtsstaatlichen Einrichtungen öffentlich zu delegitimieren. In diesem Lichte scheint es umso problematischer, wenn im Zusammenhang mit Erkenntnissen des VfGH seitens der Politik von „juristischen Spitzfindigkeiten“ gesprochen wird. Auch die Bezeichnung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses als „Löwinger-Bühne“ lässt auf mangelnden Respekt vor den demokratischen Institutionen deuten.
Die Macht der Worte darf gerade bei Politiker:innen keinesfalls unterschätzt werden. Unser gesamtes gesellschaftliches System basiert darauf, dass sich Amtsträger:innen respektieren und Entscheidungen wechselseitig anerkennen. Werden Institutionen der Gerichtsbarkeit politische Motive unterstellt, spielt man mit dem Vertrauen in den Rechtstaat in der Bevölkerung. Geht dieses Vertrauen einmal verloren, ist ein Szenario am Rande des Bürgerkriegs nicht weit hergeholt, wie die teils gewalttätigen Demonstrationen rund um die US-Präsidentschaftswahl gezeigt haben.
„Ein schwarzer Tag für den Rechtsstaat“
Während öffentlich verbale Attacken im Politiker:innensprech noch meist verblümt formuliert und als berechtigte Kritik getarnt sind, ist der Ton im vermeintlich privaten Umfeld vielfach ein rauerer. Diverse Chatprotokolle von hochrangigen Politiker:innen und Beamt:innen, die nun im Zuge der Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) im Umfeld der Regierung an die Öffentlichkeit gedrungen sind, zeigen ein besonders besorgniserregendes Sittenbild. Der derzeit suspendierte Sektionschef des Justizministeriums Christian Pilnacek bezeichnet in Chatnachrichten die WKStA etwa als missraten und wirft ihr Parteinähe vor. Nun könnte man behaupten, dass privat getätigte Aussagen wie diese womöglich zugespitzt formuliert sind und nicht zwangsläufig in politische Akte umgemünzt werden.
Führt man sich aber vor Augen, dass Pilnacek in seiner Funktion als Leiter der Abteilung für Straflegistik zugleich maßgeblich an der Ausarbeitung von Gesetzesvorschlägen im Bereich des Strafrechts beteiligt war, wird ein solches Verhältnis gegenüber den rechtsstaatlichen Institutionen umso bedenklicher. Wenn Personen, die theoretisch die Macht haben die Spielregeln zu ändern, die Schiedsrichter:innen des Rechtsstaats angreifen, ist besondere Achtsamkeit geboten. Wie durch Gesetzesänderungen kritische Schiedsrichter:innen auch innerhalb des Verfassungsbogens ausgeschaltet werden können, zeigen die Beispiele Ungarn und Polen.
„Ein schwarzer Tag für den Rechtsstaat.“ So kommentierte Christian Pilnacek eine Mehrheitsentscheidung des VfGH zur Aufhebung des Kopftuchverbots. Angst vor einem solchen schwarzen Tag ist aber weniger bei einer Entscheidung der obersten Hüter:innen der Verfassung angebracht, als bei wiederholten Angriffen auf eben diese Institutionen. Zweifelsfrei hat die Entscheidung, ob Schülerinnen das Tragen eines Kopftuchs verboten werden darf, neben einer juristischen auch eine politische und ideologische Dimension. Die Anerkennung einer Entscheidung des Höchstgerichts ist aber rechtsstaatliche Pflicht. Der Aufbau eines intakten Rechtsstaats kann in Österreich als gelungen angesehen werden, nun gilt es aber diesen auch zu verteidigen.
Weiterführende Quellen
Levitsky, Ziblatt: How Deomcracies Die, New York, 2018
https://www.derstandard.at/story/2000126957536/vom-ausbau-zur-verteidigung-unseres-rechtsstaats
https://orf.at/stories/3215690/
https://www.diepresse.com/5986903/die-justiz-eine-saule-im-rechtsstaat