
Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut?
Schon vor vielen Jahren warb die österreichische Wirtschaftskammer mit diesem Slogan und zugegeben, in unseren Köpfen hat sich ein markantes Bild eingeprägt: Die personalisierte „Wirtschaft“, gut vorstellbar als „weißer Mann“, der freundlich lächelt und sein Glück mit jener Masse an Menschen teilt, die ihm dazu verholfen haben.
Vor allem in Zeiten globaler Krisen, wie der aktuellen Covid-19 Pandemie, schleicht sich die Vermutung ein, dass der Umkehrschluss „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“ eventuell doch nicht ganz funktioniert. Um zu klären, warum, muss als erstes der Frage nachgegangen werden, was es denn bedeutet, wenn es der Wirtschaft „gut geht“. Denn dass die Wirtschaft kein fröhliches Männchen ist, ist uns eigentlich ja klar.
Es gibt keine einheitliche Definition, wann eine Volkswirtschaft eine ökonomische Gewinnerin ist. Allerdings werden Indikatoren wie Konsum, Investitionen, Staatsausgaben, Exporte und Importe herangezogen, um die wirtschaftliche Lage eines Staates zu bewerten.
Das Bruttoinlandsprodukt – ausschließlich ein Produktionsmaß
Die wohl wichtigste Kennzahl zur Bewertung von wirtschaftlichem Erfolg ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), welches die oben genannten Indikatoren zu einer Zahl zusammenfasst. Es wird über einen bestimmten Zeitraum (meistens ein Jahr) für ein begrenztes geographisches Gebiet (meistens ein Staat) als Produktionsmaß (!) berechnet. Das BIP gibt anhand des Wertes der hergestellten Güter und Dienstleistungen Auskunft über die ökonomische Lage einer Volkswirtschaft. 1
Es gilt also: „Geht´s dem BIP gut, geht´s der Wirtschaft gut.“ Aber geht´s uns dann allen gut?
Wohlstand
Das Bruttoinlandsprodukt gibt zwar Auskunft über ökonomische Leistung, als Wohlstandsmaß ist es allerdings fraglich. Im BIP scheint nur auf, was monetär gemessen werden kann. Faktoren wie Verteilungsungleichheiten, Haushaltsarbeit und Kinderbetreuung, Schattenwirtschaft, Kriminalität, Freizeit, Umweltverschmutzung oder Ressourcenverschwendung sind im BIP nicht mit inbegriffen.
Wenn beispielsweise eine Familie Reinigungskräfte oder Kinderbetreuer*innen einstellt, ist dies ein positiver Beitrag zum BIP. Diese Tätigkeiten würden nicht verzeichnet werden, wenn die Familie sie selbst erledigt. 2 Dasselbe gilt für die Alten- und Krankenpflege.
Eine hohe Kriminalitätsrate könnte gut für das BIP sein, da der Verkauf von Alarmanlagen oder Überwachungskameras dadurch tendenziell steigt, während eine gesunde Gesellschaft einen Abwärtstrend setzt, da die monetären Ströme für Medikamente, Pflege und private Gesundheitsleistungen eher sinken.
Weiters werden Schäden durch Umweltkatastrophen in der offiziellen Konjunkturberechnung nicht berücksichtigt, sehr wohl aber die Kosten der daraus resultierenden Aufräumarbeiten. Zum Beispiel trugen die Geldflüsse im Kampf gegen die Ölverschmutzung durch die Explosion der Ölbohrinsel „Deepwater Horizon“ (2010) sowie die Kosten zur Eindämmung der Nuklearkatastrophe von Fukushima (2011) positiv zum gemessenen BIP der betroffenen Staaten bei. 3
Konsum und Menschenrechte
Den größten Anteil am BIP in der Eurozone (aber z.B. auch in Amerika und Japan) hält der individuelle Konsum.1 In den letzten zehn Jahren stiegen die Konsumausgaben der privaten Haushalte der EU- Länder durchschnittlich immer weiter an.4 Während bei uns die Kühl- und Kleiderschränke immer voller werden, existieren in ärmeren Regionen der Welt immer noch Zwangs- und Kinderarbeit sowie Menschenrechtsverletzungen in Produktionsketten.
Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeiten weltweit ca. 152 Millionen Kinder, größtenteils unter ausbeuterischen Bedingungen. Laut amerikanischem Arbeitsministerium sind in 76 Staaten der Erde bei der Produktion von 148 unterschiedlichen Gütern Kinder beteiligt. Bei Produkten in denen häufig Kinderarbeit steckt, sind vor allem Kaffee, Kakao, Akkus für Elektrogeräte und Baumwolle vorne dabei. Immer wieder wird von Todesfällen aufgrund zu harter körperlicher Arbeit oder geschädigten Atemwegen durch Pestizide berichtet.5
„Die Wirtschaft“ wird angekurbelt, wenn Geld ausgegeben wird. Zu welchem Zweck dies passiert, welche negativen Begleiterscheinungen damit einhergehen und wem es dabei objektiv betrachtet sicher nicht „gut“ geht, bleibt dabei im Verborgenen.
Trotzdem rühmen sich Staaten mit einem wachsenden Bruttoinlandsprodukt. Diese anhaltende Prävalenz des BIP als Maßstab für Wachstum und Wohlstand wird von Ökonom*innen durch fehlende Alternativen erklärt. Seit 2008 gibt es von Seiten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz im Auftrag des damaligen französischen Präsidenten Sarkozy allerdings die Idee, statt einer einzigen Kennzahl, die alles zusammenfasst, viele verschiedene Indikatoren zur Analyse von Wohlstand zu betrachten.3
Die Wirtschaft und Corona
Im Jahr 2020 verzeichnete Österreich ein BIP Minus von 7,4 Prozent. Die Covid-19 Pandemie führte zu einem Einbruch des individuellen Konsums und einem Anstieg der Arbeitslosenrate sowie der Kurzarbeitsrate.6 Aufgrund von Einkommensausfällen/-Reduktionen in vielen Bereichen, versuchte der Staat mittels „Härtefallfonds“, „Ausfallboni“ oder „Investitionsprämien“ die Wirtschaft trotzdem anzukurbeln.
In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, ob es nicht „uns allen gut gehen muss, damit es der Wirtschaft tatsächlich gut geht“.
Quellen
[1] Macroeconomics: A European Text, Burda and Wyplosz (2017), 7th Edition.
[2] https://www.zeit.de/2006/06/85konom_BIP
[4] https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/nama_10_co3_p3/default/line?lang=de
[6] https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/covid-19-massnahmen-der-eu/wirtschaft.html