
Terror, Wirtschaftskrisen, Pandemien: Ohne Staat und Öffentlichkeit geht es nicht
Wie können wir uns der Zukunft stellen? Die Herausforderungen scheinen enorm. Die COVID-19 Pandemie, die gegenwärtig alle Problematiken überschattet, ist nur eine davon. Was aber verbindet die Krisen der letzten Jahre und was können wir aus ihnen lernen, um besser schwierige Situationen bewältigen zu können? Wenn die jetzige Situation und die letzten Jahrzehnte eines unter Beweis gestellt haben, dann die Einsicht, dass es ohne den Staat nicht geht. Die neoliberale Logik, die alles dem privatwirtschaftlichen Bereich überlassen will, scheitert dort, wo die Herausforderungen gesellschaftliche und epochale Dimensionen annehmen.
COVID-19 ist nach den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 und der Bankenkrise 2008 die dritte solch große Krise in diesem noch jungen Jahrhundert, die die post-historische, post-politische und neoliberale Ordnung in Frage stellt, die in den 1980ern und insbesondere mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Kollaps der Sowjetunion 1991 aufzukommen schien.In dieser drückte sich ein Triumphalismus aus, der Sozialdemokratie und Realsozialismus gleichermaßen als historisch überwunden ansah und das Zurückdrängen der Öffentlichkeit, des Staates und aller gemeinschaftlicher Institutionen als demokratisches Projekt verstand, als einen Zugewinn an Freiheit und Selbstbestimmung: Privatisierung als Maß und Ziel allen politischen Tuns. Das Unternehmen mit seinen hierarchischen, profitorientierten und privatwirtschaftlichen Strukturen wurde zum Modell aller gesellschaftlichen Organisation.
Staatlicher Ausverkauf
Der Staat, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, karitative Einrichtungen, Wohnbaugesellschaften, Wasser- und Stromanbieter, Fernseh- und Radiosender, selbst Kirchen: all diese öffentlichen oder zivilgesellschaftlichen Institutionen sollten sich dem marktwirtschaftlichen Prinzip unterordnen, an Effizienz gewinnen und Kosten reduzieren. Ihre Abläufe, ihre gesellschaftliche Funktionen, ihre Ziele, ihre Methoden und ihr symbolisches Auftreten passten sich in Folge dieses Wandels immer mehr an das unternehmerische Modell an. Die Idee von kollektiver Organisation, gemeinschaftlichen Handlungen und von Öffentlichkeit im Allgemeinen wurde systematisch zurückgedrängt, erodiert und zerstört. Zurück blieb das atomisierte Individuum, die Ich-AG, die durch Anbieten und Verkauf ihrer Fähigkeiten und Arbeitswilligkeit zu persönlichem Erfolg und Glück kommen sollte. Diese Logik schlug sich auch in der Gestaltung des Raumes nieder: öffentliches Land wurde verkauft, eingezäunt und der Öffentlichkeit unzugänglich gemacht. Polemisch gesprochen: das Volk wurde enteignet.
Das Internet als Paradigma der Privatisierung
Das Internet, das in den letzten dreißig Jahren immer mehr an Bedeutung gewann, ist Sinnbild dieses Prozesses. Während in Folge vorangegangener medialer Revolutionen der Staatsapparat Kontrolle über kritische und neurale Punkte der Informationsinfrastruktur gewahrt hatte, entwickelte sich das Internet aus militärischen und universitären Forschung hin zu einem restlos privatisierten Bereich. Rechner, Prozessoren, Graphikkarten, Bildschirme, Mobiltelefone, Betriebssysteme, Browser, Suchmaschinen, soziale Medien, Internetversand, Online-Bezahldienstleistungen, selbst Überwachungsprogramme, künstliche Intelligenz, Datenanalyse: jeder Schritt der Produktion, des Vertriebs und des Konsums internetbasierter Waren und Dienstleistungen ist privatwirtschaftlich organisiert.
Während staatliche Post- und Telefonunternehmen und öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehsender, zumindest in Europa, mediale und informationstechnologische Prozesse im 19. und 20. Jahrhundert begleiteten und in kontrollierbare Bahnen lenkten, war der Zugang zum Internet im späten 20. Jahrhundert und frühen 21. Jahrhundert anarchisch. Letztlich ergab sich daraus aber keine demokratische Utopie, sondern eine undemokratische Gegenordnung, eine Parallelgesellschaft. Firmen wie Alphabet, Amazon, Microsoft, Apple und Facebook bilden monopolistische Konglomerate, die das Internet völlig dominieren und von denen heute große Teile der Menschheit in ihren beruflichen, alltäglichen und freizeitlichen Aktivitäten weitgehend abhängen.
Keine Privatheit, wenn es um Sicherheit geht
Nur die staatliche Überwachung, die Arbeit der Geheimdienste und Militärapparate, die in Folge von 9/11 an Macht, Finanzierung und gesellschaftlicher Bedeutung gewannen, bietet den Großkonzernen der Bay-Area Paroli. Wenn es um die Aushändigung von privaten Daten, die Verfolgung und Beschattung gefährlicher und vermeintlich gefährlicher Personen, kurz die nationale Sicherheit geht, schrumpft die Macht der Silicon-Valley-Giganten. In geheimen Verfahren, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, werden die Internetkonzerne vom amerikanischen Sicherheitsapparat zur Kooperation gezwungen. In Fragen der Überwachung, der Verteidigung, des Schutzes der Bevölkerung vor feindlichen Akteuren und terroristischen Akteuren behauptet der Staat seine Macht und sein Recht. Der 11. September 2001 stellte die neoliberale Logik zumindest in Sachen der öffentlichen Sicherheit in Frage, dort, wo sie sich eigentlich auch in den Jahren davor nie durchsetzen hatte können
Neoliberale Krise, staatliche Rettung
2008 war dagegen eine genuine Krise des neoliberalen Modells, zu dem auch die Finanzialisierung aller ökonomischen Bereiche gehört. Die Weltwirtschaft stand am Rande eines Kollapses und der Wohlstand aller war existentiell bedroht. Nur der umfassende Eingriff durch die öffentliche Hand verhinderte, dass das System zusammenbrach. Wieder wurde die Macht des Staates bewiesen, wieder wurde die neoliberale Logik widerlegt. Die Nachwirkungen der Krise sind bis heute spürbar (Nullzinsen! Negativzinsen!) und der Aufstieg rechtspopulistischer und neofaschistischer Gruppierungen kann nicht unabhängig von den Ereignissen des Jahres 2008 und der folgenden Dekade gesehen werden, aber im Vergleich mit 1929 und der großen Depression der 1930er ließ sich Schlimmeres abwenden.
In der Pandemie beweist der Staat seine Macht
COVID-19 lieferte im vergangenen Jahr nun den finalen Beweis dafür, dass eine neoliberal organisierte Gesellschaft zum Scheitern verurteilt ist. Trotz aller Versäumnisse und Fehler war es letztlich das entschiedene Handeln staatlicher Akteure, das eine noch größere gesundheitliche und ökonomische Katastrophe verhindert hat. Mit einer Logik des Privaten und Einzelnen hätte es keinen Lockdown, keine Maskenpflichten, keine Begehungs- und Beherbergungsverbote, keine Grenzschließungen gegeben. Stattdessen wäre 2020 ein Jahr mit noch mehr Kranken, noch mehr Toten, noch mehr Menschen, die unter Langzeitfolgen leiden, noch mehr Arbeitslosen (Kurzarbeit!), noch mehr menschlichen Verlusten und ökonomischen Schäden geworden.
Angesichts paralleler und kommender Krisen – allen voran die globale Erwärmung – müssen wir die richtigen Lehren aus den Verwerfungen der letzten zwei Jahrzehnte ziehen. Ohne einen zentralen und in gewisser Weise auch national organisierten Staat können soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Herausforderungen nicht gelöst werden.
Ein neuer Weg in die Zukunft
Grundlegende gesellschaftliche Veränderungen sind Aufgabe der Gesellschaft und lassen sich nur mittels ihres demokratisch legitimierten Repräsentanten, dem Staat, exekutieren. Ein Beharren auf der neoliberalen Logik des Privaten und Individuellen scheint aufgrund vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Krisen nicht mehr haltbar. Der Staat muss seine gesellschaftliche Funktion wahrnehmen und wieder zum Träger von Veränderung und Fortschritt werden. 9/11, die Wirtschaftskrise 2008 und die momentan alles bestimmende Pandemie haben seine Macht unter Beweis gestellt: nun gilt es sie zu nutzen – im Sinne der Gesellschaft, die das demokratische Konstitutiv des Staates darstellt.