
Das heimliche Spiel um Macht im Schatten von Corona – in einer Nacht zur Ausschaltung des Parlaments in Ungarn
Coronakrise. Panik. Leere Supermarktregale. Klopapiermangel. Verunsicherung. Alle sind jetzt Experten. Einer sagt dies, einer sagt das. Wem kann man noch trauen? Warum wird so viel Panik geschürt? Ich frage mich, was ist gefährlicher: das Virus oder die Angst davor? Die Medien stört das nicht, denn sie haben nun ein gefundenes Fressen. Ein Über-Thema. Und leise, ganz leise, während alle wegen einer vermeintlich sehr gefährlichen Krankheit die Krise bekommen, nähert sich ein Problem, das wegen dieser Krise fast völlig verschwiegen wird und vor dem man genauso Angst haben sollte. Denn: Während tausende Menschen ihre Arbeit verlieren und psychische Probleme sich quer durch die Bevölkerungsschichten schlängeln, wird in Ungarn, 70 Kilometer von Graz, im Zuge der Pandemie die Gunst der Stunde genutzt um still und heimlich das dortige Parlament auszuschalten.
Begründet wird dieser Schritt damit, dass die Coronakrise ja eine Krisensituation ist und dass die ungarische Regierung diese schwierige Situation nur bewältigen könne, wenn Viktor Orbán alleine mit seiner Fidesz-Partei für klare Verhältnisse sorgt. Und das, während quer durch die Bevölkerung Unsicherheit herrscht: Bei Großeltern, die jetzt noch weniger Kontakt zu ihren Enkeln haben. Bei Arbeiter*innen, die von ihren Arbeitgeber*innen gekündigt werden, da sie nicht unbedingt benötigt werden. Bei Arbeitgeber*innen, die Probleme haben ihr Unternehmen am Leben zu halten um selbst nicht insolvent und arbeitslos zu werden. Bei Schüler*innen, die in diesem Jahr maturieren wollen und die jetzt erst recht nicht wissen, wann sie diese für viele sehr wichtige Prüfung absolvieren können.
Pressefreiheit?- Fehlanzeige!
Im ersten Moment könnte man meinen, Orbán ginge es mit der Entscheidung das Parlament auszuschalten wirklich nur um das Wohl seiner Mitbürger*innen. Wer sich aber genauer mit der politischen Situation in Ungarn befasst, wird feststellen, dass es Orbán bei seiner Tat eigentlich nur um eines geht: seine Macht im Staat noch weiter auszubauen. Dieses Bestreben konnte man bereits in den letzten Jahren vor allem im Bereich der Pressefreiheit erkennen. 2010 besetzte Orbán nämlich den Presserat ausschließlich mit Mitgliedern seiner eigenen Partei, der rechtskonservativen Fidesz. Der Presserat darf vom Parlament zwar nicht kontrolliert werden, dennoch erhielt die Partei durch diese Neubesetzung umfangreiche Kontrollrechte über die Medien sowie über die Inhalte ihrer Berichte. Wenn beispielsweise „nicht politisch ausgewogen“ berichtet wird, können seitdem zum Beispiel empfindliche Geldbußen (bis zu umgerechnet rund 750.000 Euro, bei Online-Medien bis zu 90.000 Euro) verhängt werden.
Aber was wird als „politisch ausgewogen“ erachtet, wenn das gesamte Gremium des Medienrats aus Mitgliedern Orbáns Fidesz Partei besteht? Die Antwort liegt auf der Hand: In diesem Fall bedeutet „politisch ausgewogene Berichterstattung“ das zu schreiben, was die Fidesz-Partei der ungarischen Bevölkerung als die Wahrheit verkaufen möchte. Kritischem Journalismus wird somit der Riegel vorgeschoben. Das zeigt sich anhand aufgedeckter Tatschen: Beispielsweise wurde die als eher regierungskritisch geltende, größte Tageszeitung Népszabadság am 8. Oktober 2016 in einer überraschenden Aktion über Nacht eingestellt. Es wird angenommen, dass dies auch deshalb geschah, weil die Zeitung kurz davor Regierungsskandale aufgedeckt hatte. Angeblich kontrolliere Orbán auch staatlichen Fernsehsender Magyar Televiszio und übe auch noch Kontrolle an vielen weiteren Medien aus.
Wie ist es zur Ausschaltung des Parlaments gekommen und was bedeutet das konkret?
Ungarns Parlament weist in seiner Regierung eine 2/3 Mehrheit an Abgeordneten der Fidesz-Partei auf. Das bedeutet, dass in diesem Fall die Partei alleine Gesetze machen kann. Mit dieser 2/3 Mehrheit von 138/199 Parlamentsabgeordneten beschloss die Partei letzte Woche (2. April 2020) ein Notstandsgesetz, welches Orbán dazu bewilligt, den am 11. März 2020 ausgerufenen Notstand ohne Mitsprache der Opposition zu verlängern und in diesem Zuge auch ohne Rücksprache mit dem Parlament über Gesetze zu bestimmen.
Ein „Notstand“ kann in Ungarn etwa bei Naturkatastrophen, industriellen Katastrophen und eben Pandemien ausgerufen werden. Durch diesen Notstand können „einfach so“ zahlreiche Bürgerrechte ausgehebelt werden. Laut dem Entwurf sollen auch Wahlen und Volksabstimmungen nicht stattfinden, was natürlich ein immenser Eingriff in die Demokratie eines Landes ist. Außerdem drohen mehrjährige Gefängnisstrafen für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ und für „Behinderung der Epidemiebekämpfungsmaßnahmen“. Das, was an dieser Entscheidung meiner Meinung nach aber am meisten zu kritisieren ist, ist, dass Orbán selbst damit befähigt wird, per Dekret ohne zeitliche Einschränkung und ohne das Parlament zu regieren. Dabei ist es mehr als fraglich, ob Orbán, der seit seinem Wirken als Regierungschef schon öfters Menschen-, Grund- und- Freiheitsrechte mit Füßen getreten hat, dieses „Notstandgesetz“ nach der Coronakrise auch wieder aufhebt.
Amnesty International Ungarn sprach eine Warnung aus, dass das Gesetz einen „unendlichen und unkontrollierten Notstand schafft und Viktor Orbán und seiner Regierung einen Blankoscheck für die Beschränkung der Menschenrechte verleiht“. Die Organisation sieht das Vorgehen der ungarischen Regierung zudem kritisch, weil somit Gesetze schneller verabschiedet oder abgeändert werden können, oder auch frühere Gesetze beschränkt werden können, was wiederum Auswirkungen auf die Menschenrechte haben könnte. Insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Medienfreiheit, die Arbeit von Gerichten und das Eigentumsrecht seien besonders gefährdet und die Liste an potentiellen Einschränkungen der Menschenrechte durch dieses Gesetz sei noch viel länger.
Orbán rechtfertigte sich zur Kritik des Gesetzes indem er meinte, dass das Gesetz nur zum Schutz der Bevölkerung vor der Corona-Pandemie verabschiedet wurde und dass das Parlament den Notstand jederzeit beenden könne. Er behaupte außerdem, dass ihm seitens der Europäischen Union nicht geholfen werde die Eindämmung des Virus in den Griff zu bekommen. Somit soll sich die EU wenigstens davon fernhalten, die ungarischen Verteidigungsmaßnahmen zu behindern. Den ungarischen Oppositionsparteien warf er zudem vor, nichts gegen die Pandemie unternehmen zu wollen.
Kritische Stimmen zur politischen Situation in Ungarn
Der Träger des Zürcher Journalistenpreises, Bernhard Odehnal, beschreibt die politische Situation in Ungarn wie folgt: Orbán sei zwar auf demokratischem Wege an die Macht gekommen, aber seine Regierung schaffe jetzt die Demokratie ab. In einem Interview mit der Schweizer Zeitung Tages-Anzeiger sagt Odehnal, alle klassischen Instanzen der demokratischen Kontrolle seien geschwächt, abgeschafft oder unter die Kontrolle der Regierung gebracht worden. Weiters meinte die ehemalige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und Kommissarin für das Ressort Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, Viviane Reding, dass in Ungarn das Wort „Pressefreiheit“ seinen Namen nicht mehr verdiene.
Jetzt hat das von Orbáns Partei Fidesz regierte Ungarn mit der Einschränkung der Pressefreiheit nicht nur die öffentliche Meinung der ungarischen Bevölkerung eingeschränkt und somit den Journalist*innen das Recht auf freie Meinungsäußerung genommen, sondern hat Orbán zum Beschluss eines Notstandsgesetzes im Zuge des Coronavirus weitreichende und zeitlich unbegrenzte Rechte gesichert und dies mit dem Kampf gegen das Virus begründet. Aber aufgrund der bereits geschehenen unzähligen Skandale, die das ungarische Parlament unter Orbán zu verantworten hatte, ist zu erwarten, dass dies nur ein weiterer Schritt des ungarischen Premierministers ist, um noch autoritärer und mit noch mehr Macht in Ungarn regieren zu können.
Wie geht die EU mit diesem Problem um?
Orbáns Partei, die Fidesz, ist Mitglied der Europäischen Volksparteien (EVP), welche schon seit längerer Zeit damit liebäugeln, die Fidesz aufgrund einiger vergangenen, undemokratischen Taten aus ihrer Parteiengruppe auszuschließen. Nun gibt es erneut Forderungen von einem Dutzend konservativer europäischer Parteien, die im Europäischen Parlament die Fraktion Europäische Volkspartei (EVP) bilden: sie verlangten, die Fidesz insbesondere aufgrund der aktuellen Situation in Ungarn der EVP auszugliedern.
Die österreichische ÖVP, ebenfalls Mitglied der EVP, unterstützte diese Forderung nicht. Bundeskanzler Kurz (ÖVP) wolle Orban nicht kritisieren, Europaministerin Karoline Edtstadler (ebenfalls ÖVP) meinte, man „setze auf Gespräche“. Dies begründet die Partei damit, dass das Ergebnis der Prüfung der EU-Delegation abzuwarten sei bevor eventuell weitere Schritte gesetzt werden. Angeblich gäbe es unterschiedliche rechtliche Auffassungen über das Notstandsgesetz in Ungarn, aber die Partei erwarte, dass auch Ungarn bei den Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus die Rechtsstaatlichkeit einhält. Hingegen haben Nationalrats- und EU-Abgeordnete von SPÖ, Grüne und NEOS sowie der ÖVP-EU-Abgeordnete Othmar Karas in einer gemeinsamen Erklärung ein „entschiedenes Einschreiten“ der EU-Kommission gegen Ungarn nach der Ausschaltung des ungarischen Parlaments gefordert. Die Europäische Kommission müsse „umgehend Stellung beziehen und mit dem Europäischen Gerichtshof entschieden einschreiten“.
Wie geht es weiter in Ungarn nach der Coronakrise
Auch wenn die Fidesz-Partei nicht aus der Fraktion der Europäischen Volksparteien ausgeschlossen wird, sollte man ein besonderes Augenmerk darauf werfen, ob Orbán nach dieser Pandemie seinen autoritären Regierungsstil weiterführt. Denn sollte dies geschehen, wäre meiner Meinung nach sogar ein gänzlicher Ausschluss Ungarns aus der Europäischen Union angebracht. Denn, was Viktor Orbán in Ungarn nicht nur mit der Pressefreiheit angerichtet hat, sondern allgemein auch in Bezug auf die Menschenrechte in Ungarn negativ verändert hat, kann demokratiepolitisch als äußerst fahrlässig bezeichnet werden. Dazu zählt beispielsweise die Überlegung, die Todesstrafe in Ungarn wieder einzuführen, oder die Einschränkung der Möglichkeit der Bürger*innen an Volksentscheidungen politisch mitzubestimmen.
Man könnte hier noch viele Beispiele und Vorfälle aus den letzten Jahren nennen, die nicht hinzunehmen sind. Klar ist nur, dass es bei weiteren Verletzungen der Demokratie weitreichende Konsequenzen geben muss: im schlimmsten Fall eben auch ein Austritt aus der EU. Denn die Europäische Union sollte nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern auch eine Friedensunion sein, die eine demokratische Politik, welche die Menschenrechte würdigt, voraussetzt.
Quellen
Scharfes Mediengesetz in Ungarn: https://www.nzz.ch/scharfes_mediengesetz_fuer_ungarn-1.8789269
Ungarns Parlament faktisch entmachtet: https://orf.at/stories/3159914
Medienpolitik à la Orbán und Co: https://www.derstandard.at/story/2000116506026/medienpolitik-a-la-orban-und-co
EU-Kommission will ungarisches Notstandsgesetz prüfen: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/europa/2056139-Notstandsgesetz-in-Ungarn-Einschreiten-der-EU-gefordert.html
Was wurde eigentlich aus Ungarns Mediengesetz? https://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-was-aus-dem-mediengesetz-von-victor-orban-wurde-a-996340.html