
Gegen die Ökonomisierung der Bildung – im Sinne der Freiheit und Demokratie
Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte schreibt ein Recht auf Bildung für alle fest. Im Sinne der Allgemeingültigkeit der Vereinbarung konnte natürlich nicht genauer auf die Natur dieser „Bildung“ eingegangen werden. Wandelte sich ja die Bedeutung mit Zeit, Gesellschaft und Politik, so wäre es töricht gewesen, einen so weitläufigen Begriff 1948 definitorisch einzuengen. Jedoch scheint es einem – vor allem im deutschsprachigen Raum über Jahrhunderte gelebten – Verständnis von Bildung diametral gegenläufig, wenn die aktuelle Wirtschaftsministerin, Margarete Schramböck (ÖVP), davon spricht, dass Gymnasien „am Markt vorbei produzieren“ und „Unternehmen mit vielen Studien nichts anfangen können“. Denn würde man Bildung als Reifungs- und Individuationsprinzip der Selbstfindung oder eher noch der Selbsterfindung, des identitätsstiftenden Erschaffungsprozesses verstehen, so könnte man sich nicht der Sprache eines ökonomischen Funktionalismus bedienen. Was in den Aussagen der Ministerin durchscheint, ist nichts als Verachtung für die bildungsbürgerlichen Ideale, für die einst ihre ideologischen Vorfahren so entschieden eintraten. Bildung als Mittel zum Zweck, als Grundlage der materiellen Bereicherung unserer selbst, aber vor allem auch jener, die an den Schalthebeln der Macht sitzen und die Produktionsmittel und das Kapital besitzen und kontrollieren, das ist das Bild, das vermittelt wird. Schlimmer noch, was gefordert wird ist nichts weniger als der Versuch, Kinder und Jugendliche so früh wie möglich in die Logik des Systems einzugliedern, sie für Produktion und Konsum zu sozialisieren und ja nicht zum Denken, Hinterfragen und Ausscheren anzustiften.
Der ideale Maturant/die ideale Maturantin nach diesem Modell geht konform mit Wirtschaft, Staat und Politik und hat sich längst abgewandt von allem, das sein/ihr sicheres Weltbild destabilisieren hätte können. Eine humanistische Bildung dagegen sieht eine andere Aufgabe, ein anderes Ziel, das am Ende einer Auseinandersetzung mit Kultur und Theorie steht: Ein zur gelebten Demokratie begabtes Individuum, das sich zwar in der Mitte von Geschichte und Gesellschaft weiß, aber es dennoch versteht, sich von anderen und auch von sich selbst zu distanzieren. Ein solches Individuum fügt sich nicht gar so leicht in die undurchschaubaren Netzwerke von Politik und Wirtschaft ein, die uns mit ihrer hegemonialen Macht zu überwältigen drohen, ein solches Individuum nickt nicht jede auch noch so abgedroschene Phrase ab, nur weil sie von einem sympathischen Mund gesprochen wird, ein solches Individuum sieht in der Hand, die sich zur Faust geballt gen Himmel streckt, nicht die eines Beschützers, sondern die eines Demagogen, denn es weiß, dass, wenn sie niederschnellt, immer nur die falschen getroffen werden.
Wer sich mit Literatur, mit Philosophie, mit Kunst, mit Soziologie und allem, was „am Markt vorbei produziert“ und mit dem „Unternehmen nichts anfangen können“, beschäftigt, erlebt Grenzerfahrungen, die einen zur Peripherie des Möglichen, Vernünftigen und Anständigen führen
. Ihnen wird der Blick geöffnet für das, was abseits der profanen Alltäglichkeit und biederen Konformität liegt. Natürlich muss auch Raum zur Ausbildung bleiben, damit man an der Gesellschaft teilhaben kann, aber die größere Freiheit, die jungen Leuten zustehen sollte, ist die, die zwischen Erwachsenwerden und Erwachsensein eine gewisse Diskontinuität zulässt, damit – bevor man sich in die Abhängigkeitsverhältnisse der Lohnarbeit begibt, wie die meisten es müssen – ein Raum geschaffen wird, in dem man über sich hinausschauen kann und so, paradoxerweise, sich und anderen näher kommt. Die Freude an der Bildung, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Rentabilität, kann die zentrale Erfahrung eines jungen Menschen sein, doch wenn die Politik diesen Selbstzweck untergräbt – zum Beispiel mittels Studiengebühren, Kompetenzendiktat und Ökonomisierung der Lehrpläne und Curricula – beraubt sie neue Generationen eines einzigartigen Wegs der Selbstwerdung, die sonst nur auf Umwegen erreicht werden kann.
Die Humanwissenschaften, denen die Ministerin in deutlicher Sprache den Kampf ansagt, ermöglichen es, zumindest auf einer analytischen Ebene, aus einem selbst und der Gesellschaft hinauszusteigen und dann zurückzublicken, so dass man das für selbstverständlich Gehaltene entschlüsseln und offenlegen kann. Dabei entkommt man zwar sich selbst nicht wirklich, aber dieser Spiegeleffekt, der entsteht, wenn man sich und seine Umgebung reflektiert sieht, verändert das Selbstverständnis und das Sich-seiner-Selbst-bewusst-Sein und eröffnet eben jene oben beschriebenen Möglichkeiten der Individuation
. Im technokratischen, wirtschaftsfreundlichen und menschenfeindlichen Effizienzwahn wird aber dieser eigentliche Sinn von Bildung vergessen. Im Wirtschaftssprech werden Arbeitnehmer/innen als „Humankapital“ geführt, und diesen Entzug der Menschlichkeit und Individualität fordert die aktuelle Regierung nun auch für Schulen und Universitäten ein. Es gilt sich zu wehren, auch wenn man mit dem Bewusstsein kämpft, dass die österreichische Entwicklung von klassischer humanistischen Bildung hin zur ökonomisierten Ausbildung, die nur auf eine Ausbeutung des Geistes zielt, Teil eines größeren, globalen, seit Jahrzehnten laufenden Prozesses ist. Es bedarf einer transnationalen Koalition von Gleichgesinnten, einer Restauration des öffentlich intellektuellen Diskurses und einer Aufwertung der Bildung und Kultur – durch öffentliche Gelder und zivilgesellschaftliches Engagement. Nur so können wir der „kulturellen Pauperisierung“, wie der Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk die gegenwärtige Entwicklung unlängst nannte, entgegenwirken. Das wäre auch eine Stärkung der Demokratie in Zeiten von Nationalismus und Demagogie.