
Der Kinderschänder von nebenan.
In Deutschland klagen ehemalige Sexualstraftäter erfolgreich ihre Freiheitsrechte ein. Die Bevölkerung schäumt
. Und greift zur Selbstjustiz.
„In diesem Haus wohnt ein Kinderschänder!“ Solche Tafeln vor Häusern gibt es in den USA seit einigen Jahren. Wer sich einen großräumigeren Überblick verschaffen möchte schaut ins Internet und bedient sich der „Crime Map“, eines Verzeichnisses, das verurteilte Straftäter samt Bild, Wohnsitz und begangener Straftat abbildet. Eine ähnliche Website gibt es seit kurzem auch in England, und ebenso wird in Deutschland über eine Einführung nachgedacht.
In unserem Nachbarland ist eine Diskussion entstanden, wie man mit verurteilten StraftäterInnen, insbesondere SexualstraftäterInnen, umzugehen hat, wenn diese ihre Haftstrafe abgesessen haben. Die Lösung, nach der sich besorgte BürgerInnen sehnen, ist die sogenannte Sicherheitsverwahrung.
Auch Kinderschänder haben Rechte
Sie soll zur Anwendung kommen, wenn davon auszugehen ist, dass der Ex-Häftling trotz Therapie rückfällig werden könnte, sprich erneut Kindern und Jugendlichen sexuelle Gewalt antut. Ausgelöst wurde die Debatte im Herbst vergangenen Jahres, als sich ein ehemaliger Kinderschänder unmittelbar nach seiner Enthaftung wieder an einem kleinen Mädchen verging. Vor Gericht war bekannt, dass ein Rückfall „nicht auszuschließen“ sei.
Seit 2011 haben deutsche RichterInnen die Möglichkeit, SexualstraftäterInnen nach verbüßter Haftstrafe auf zweierlei Art von der besorgten Bevölkerung fernzuhalten: entweder mit der angesprochenen Sicherheitsverwahrung, oder mittels polizeilicher Überwachung am Wohnsitz. Zweiteres wird bereits angewendet: Ein ehemaliger Kinderschänder darf sich in seiner neuen Wohngegend bewegen, wird aber rund um die Uhr von zwei eigens abgestellten PolizistInnen überwacht.
Gegen beide Wege der Überwachung protestieren nun die StraftäterInnen. Man gebe ihnen keine „zweite Chance“, man habe sich im Vollzug therapieren lassen, würde die Taten bereuen.
Ein sichereres Argument ist jenes, dass die Freiheitsrechte der Ex-Verurteilten verletzt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR sieht keine weitere Einschränkung der persönlichen Freiheit nach der Haft vor – auf dieses Gesetz berufen sich in Deutschland nun immer mehr ehemals Inhaftierte. Mit Erfolg. Kürzlich bekam in Karlsruhe ein freigehender Kinderschänder vor Gericht Recht – er klagte auf „Verletzung der persönlichen Freiheit“, da es ihn unmöglich schien, ein „normales Leben zu führen, wenn er stets von zwei Beamten beim Einkaufen begleitet“ werde.
So steht man bei unseren Nachbarn vor dem Dilemma: Auf der einen Seite hat man nach den Gesetzen des EGMR zu handeln (obgleich das Deutsche Grundgesetz im Zweifelsfall über den EGMR gestellt werden kann), auf der anderen Seite muss der Staat seiner „Beschützerfunktion“ nachkommen und seine besorgten BürgerInnen vor möglicherweise rückfällig werdenden TäterInnen schützen.
„Wegsperren für immer!“
Und die Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten ist äußerst beunruhigt. So gibt es den Fall in Sachsen, wo Bürger vor dem Haus eines Kinderschänders demonstrieren, „bis der abhaut“. Man wolle die Kinder „weiter draußen spielen lassen“. In einer anderen Region hängten BürgerInnen Flugblätter mit dem Bild eines früheren Vergewaltigers in der Gegend auf: „Achtung: Hier wohnt ein Sexualstraftäter!“. Es gibt inhaltlich Parallelen zur amerikanischen „Crime Map“, nur dass man die TäterInnen hier öffentlich statt online an den Pranger stellt. Von Prominenten kommt die Forderung, eher auf die zuvor angesprochene Sicherheitsverwahrung zurückzugreifen: „Lebenslang wegsperren!“ so Till Schweiger kürzlich in „SternTV“.
TäterIn oder BürgerIn– wen schützt Deutschland?
Zwei Fragen tun sich auf. Einerseits: Ist es vertretbar, ehemalige Straftäter, die jahrelang eingesperrt waren, Therapien machten und „an sich arbeiteten“, auch in Freiheit weiter zu stigmatisieren, mit Flugzetteln, Websites und Demos?
Andererseits: Die Opfer von Gewalttätern hatten auch keine „zweite Chance“, leiden, sofern sie nicht starben, zusammen mit Angehörigen oft ein Leben lang an psychischen Folgen.
Die in Österreich gewählte Vorgehensweise der Unterbringung geistig abnormer Rechtsbrecher (Einweisung und dann regelmäßige Überprüfung und bei Besserung Entlassung) könnte vermutlich auch die Situation in Deutschland zur Zufriedenheit beider ‚Seiten’ lösen, da die Sexualstraftäter erst dann entlassen werden, wenn psychiatrische Gutachten von einem Wegfall der Gefährlichkeit ausgehen (selbstverständlich können auch in diesem Fall Ausnahmen im Sinne von Rückfallstaten vorkommen).
Die Ideen der Überwachung durch PolizistInnen nach der Haftentlassung bzw. das lebenslängliche Einsperren sind aus menschenrechtlicher Sicht eindeutig abzulehnen, da sie die Rechte des ehemaligen Häftlings nicht gebührend in Betracht ziehen bzw. deren Menschenrecht auf persönliche Freiheit sogar verletzen und mehr dem (in den USA klar vorherrschenden, jedoch für Österreich und Deutschland und deren starke Menschenrechtstraditionen abzulehnenden) Law and Order-Gedanken entsprechen.
Kommentar:
In Österreich werden StraftäterInnen, die zu einer Freiheitsstrafe, die ein Jahr übersteigt, verurteilt wurden, gemäß § 21 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtbrecher eingewiesen, sofern sie unter dem Einfluss einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad diese Straftat begangen haben. Diese Unterbringung wird vom Richter zugleich mit der Verhängung der Freiheitsstrafe im Urteil ausgesprochen (bei zurechnungsunfähigen Personen anstatt der Freiheitsstrafe)
. Diese Unterbringung wird in Krankenanstalten oder speziell dafür ausgestatteten Gefängnissen vorgenommen. Eine Entlassung aus dieser Anstalt kann vorgenommen werden, wenn aufgrund der Entwicklung der Person ‚Aussichten auf ein redliches Fortkommen’ bestehen und die Gefährlichkeit nicht mehr besteht. Im Durchschnitt sind Personen zurzeit 5,4 Jahre in einer solchen Anstalt untergebracht bevor es zu einer Entlassung kommt (vgl. z.B. den Rechnungshofbericht von 2010 ab Seite 10) .