
Wem gehören die Menschenrechte?
Im Kontext der Islam- und Islamismusdebatte ist oft von europäischen Werten die Rede, auch von christlichen oder „judeo-christlichen“ Werten. Integrationsminister Sebastian Kurz will sogar einen Wertekurs für Flüchtlinge anbieten, um ihnen die „europäische“ Lebensweise näher zu bringen. Doch dabei wird nicht hinterfragt, was überhaupt gemeint ist mit diesen Werten. Darüber hinaus muss man auch fragen, können Europäer und Europäerinnen überhaupt Besitzanspruch darauf erheben? Kann man sie christlich nennen? Das sind Grundfragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, bevor wir einen Katalog schreiben und Kurse anbieten, in denen wir eine Kultur vermitteln wollen, von der wir nur oberflächlich sicher zu wissen scheinen, dass sie die unsere, die europäische, die christliche, die westliche ist.
Werte – ein Definitionsproblem
Um zu eruieren, was wir meinen, wenn wir vage von europäischen Werten sprechen, müssen wir zuerst einmal definieren, welche gemeint sind. Oft wird die Gleichberechtigung von Frauen, von Homosexuellen, die Meinungs-, Presse-, Religionsfreiheit und der Säkularismus genannt, als Oberbegriff wird Freiheit und Demokratie verwendet. Rechte und Freiheiten, die, wie oft gesagt wird, hart erkämpft wurden und deren Verlust durch sogenannte „Islamisierung“ gefürchtet wird. Im Islam gebe und gab es nie diese Rechte, heißt es, nur in Europa
. Aber ist Bosnien nicht in Europa? Die Türkei zum Teil? Gab es nicht schon im 11. Jahrhundert im Islam eine Aufklärung, die später von reaktionären Kräften zurückgedrängt wurde? Westeuropa, meinen sie natürlich und sie sprechen von heute und nicht der Vergangenheit, man soll sich einmal Saudi-Arabien anschauen und dann sagen, der Islam ist die Religion des Friedens. Ist Saudi-Arabien nicht der rückständigste Staat der islamischen Welt, der eine spezielle, wahabitische Auslegung, Interpretation dieser Religion vertritt? Ist Tunesien nicht ein islamischer Staat, der den Übergang zur Demokratie einigermaßen geschafft hat? Sind islamische Länder im Südosten Asiens nicht völlig anders und beweisen, dass von einem Islam, dem 1,5 Milliarden Menschen angehören, zu sprechen, grundsätzlich falsch ist? Und die Herkunft „unserer“ demokratischen Werte? Das antike Griechenland wird nicht oft genannt, vielleicht liegt es zu weit in der Vergangenheit, vielleicht will man die lange, tausend Jahre lange Periode verschweigen, wo man alle säkularen, demokratischen Ideen vergessen und Kreuzzüge gegen Ungläubige geführt hat, wo Staat und Kirche, Kaiser und Papst, untrennbar waren und dank des blinden Glaubens der Bevölkerung diese unterjochen konnten. Und auch nach der Renaissance, dem Humanismus und später der Aufklärung besann man sich nicht endgültig auf diese europäischen Werte, im Gegenteil, das größte Grauen, die schlimmsten, menschenfeindlichsten Regime töteten und unterdrückten im 20. Jahrhundert, lange nach dem Tod von Kant und Voltaire.
Demokratie als Folge von Reichtum
Selbst die Aufklärer vertraten nicht nur „europäische“ Werte. So waren Frauen- und Homosexuellenrechte noch kaum ein Thema für die Aufklärung, natürlich mit Ausnahmen. Die Frauenfrage wurde Ende des 19. Jahrhundert wichtig, die der Homosexuellen erst viel später, in vielen westeuropäischen Staaten war gleichgeschlechtliche Liebe bis in die sechziger Jahre kriminalisiert, in Österreich bis zur Jahrtausendwende. Trotzdem muss man natürlich sagen, dass die Entwicklung der „Werte“ im Westen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rasant war, aber das ging natürlich auch mit rasanter wirtschaftlicher Entwicklung einher, die den reichsten Teil der Erde noch reicher machte. Dass eine stabile Wirtschaft stabile Demokratien und die Durchsetzung von gesellschaftlich-liberalen Rechten erst ermöglicht, zeigt uns die heutige politische Landschaft Europas
. Rechte, anti-liberale Kräfte erleben in Folge der Finanzkrise einen Aufschwung, besonders in eher instabilen Ländern in Osteuropa, in Polen wurde zum Beispiel gerade eine rechtspopulistische Partei mit anti-demokratischen Tendenzen bei den Parlamentswahlen zur stärksten Kraft und stellt nun die Ministerpräsidentin.
„Europäische Werte“ oder Menschenrechte?
Wir sollten aufhören von europäischen Werten zu sprechen, denn das ignoriert die komplexe Geschichte, die zum heute großteils aufgeschlossenen Westeuropa geführt hat, die immensen Vorteile, die Europa hatte, auch durch Kolonialismus und Ausbeutung anderer Länder und setzt voraus, dass die Werte, auf die wir so stolz sind, nicht universell sind. Vielleicht sollte wir eher beginnen von Menschenrechten zu reden, deren allgemeine Erklärung von den meisten Ländern der Welt ratifiziert wurde – was natürlich nicht bedeutet, dass sie überall eingehalten werden – und die viel inkludierender klingen. Kurse und Kataloge für Menschen, die es nicht gewohnt sind, von ihren Regierungen menschenwürdig behandelt zu werden, deren Heimatländer sich aufgrund verschiedener Faktoren anders als westeuropäische entwickelt haben, sind eine grundsätzlich gute Idee, sie sollten nur einen weniger arroganten Namen bekommen, mehr auf Dialog und Verständnis aufgebaut.