
„Keine Isolation“ heißt nicht „keine Einsamkeit“
In Österreich wurde kürzlich ein Fahrplan für das Ende der Covid-19 Pandemie entschieden. Darin sollen bis spätestens Ende Juni alle Coronamaßnahmen aufgehoben werden.1 Das soziale Leben kann nun also wieder in vollen Zügen genossen werden und „social distancing“ scheint der Vergangenheit anzugehören. Niemand muss sich also mehr Sorgen machen, isoliert von der Außenwelt zu sein, oder doch?
Dass sich die Rückkehr in das soziale Leben seit der Pandemie nicht so einfach gestaltet, zeigt eine australische Studie des Soziologen Roger Patulny. Ein Großteil der Befragten berichtete, dass Gefühle wie Einsamkeit, Abkoppelung und soziale Müdigkeit nach den Lockdowns immer noch ein großes Problem im Alltag darstellen. Viele hätten geschildert, dass „face-to-face“-Kontakte einfach nicht mehr dasselbe wären. Vor allem Menschen mit psychischen oder gesundheitlichen Problemen, Singles oder Personengruppen, die sich während der Pandemie an wichtigen Schnittpunkten ihres Lebens wie Schulabschluss, Uni-Start oder Geburt eines Kindes befanden, seien laut Patulny stärker von langfristiger Einsamkeit betroffen.2
Auch in Österreich sprechen die Zahlen Bände. Eine Studie der Uni Wien offenbarte, dass sich im Frühling 2022 22% der Befragten an manchen Tagen und 15% mehrmals die Woche einsam fühlten.3
In engem Zusammenhang mit Menschenrecht auf Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Artikel 34 der Europäischen Menschenrechtskonvention), wäre es zur Bekämpfung von Einsamkeit essenziell, soziale und strukturelle Faktoren abzuschaffen, die Einsamkeit bedingen. Dazu gehören Ungleichheiten im Bereich Bildung, Gesundheit und Wohnen, aber auch Vorurteile und Stigmatisierung. Letzteres könnte beispielsweise durch Sensibilisierungskampagnen adressiert werden.4
In Österreich nehmen durch die steigende Sensibilisierung für das Thema Einsamkeit auch die Initiativen und Projekte zu. Wohnprojekte gegen Einsamkeit wie das Projekt der Caritas „WG-Melange“ in der Seestadt für einsame Personen ab 55 Jahren, sogenannte „Plauderbankerl“ und Begegnungscafés sind nur einige Beispiele. Die wohl meistgefragte Initiative gegen Einsamkeit sind Telefonprojekte wie beispielsweise das „Plaudernetz“. Dort wird Menschen aller Altersgruppen ein offenes Ohr geliehen. Auch Angebote, die sich spezifisch an bestimmte Altersgruppen richten, sind weit verbreitet. „Kenne deine Rechte“ hat mit zwei Ansprechpersonen solcher Projekte gesprochen:
Das „redentutgut“-Telefon richtet sich vorrangig an Personen über 60 Jahren. Das Angebot für Alltagsgespräche ist im Herbst 2020 entstanden, da sich ältere Menschen durch die Corona-Pandemie vermehrt einsam fühlten und oftmals aufgrund des Ansteckungsrisikos der Kontakt zu den Enkelkindern reduziert wurde. Die Anrufer*innen-Zahlen sind zwar seit Ende der Lockdowns zurückgegangen, aber die Möglichkeit, telefonisch mit jemandem reden zu können, findet nach wie vor großen Anklang. Mit den Ehrenamtlichen wird dann hauptsächlich über die Familie, Hobbies, Alltagsthemen, aber auch über tagespolitisches Geschehen geplaudert. Das Thema Nummer 1 sei aber die Einsamkeit. Obwohl das „redentutgut“-Telefon keine Beratungshotline ist, versuchen die Mitarbeiter*innen den Betroffenen Mut zu machen, existierende Angebote in Anspruch zu nehmen oder frühere Hobbies wieder aufzugreifen. Laut der Leiterin des Projekts gäbe es verschiedene Gründe für Einsamkeit, die Familienstruktur und Stadt-Land-Unterschiede, wie fehlende Nachbarschaftsgefüge und Anonymität in der Stadt, seien aber ganz vorne dabei. Auffällig sei außerdem, dass hauptsächlich Frauen beim „redentutgut“-Telefon anrufen, da sich Männer dieser Generation oftmals scheuen würden, sich Hilfe zu holen. Auf die Frage, was gesellschaftlich passieren müsste, damit Einsamkeit bei Menschen über 60 reduziert werden könne, meint die Ansprechperson, dass ältere Personen besser eingebunden werden sollten. Dass es leistbare oder kostenfreie Angebote für Pensionist*innen gibt, wäre von Vorteil, denn ein großer Anteil der Pensionist*innen lebe von einer Mindestpension und das derzeitige Angebot bestehe hauptsächlich aus teuren Workshops und Veranstaltungen. Auch die Bekanntmachung von Angeboten sollte in Angriff genommen werden und Werbung für Projekte wie dieses müsste günstiger werden. „Man kann sich als Verein einfach keine großen Werbekampagnen leisten“, kritisiert die Leiterin des Projekts.
Aber nicht nur bei älteren Menschen hat die Corona-Pandemie das Thema Einsamkeit verschärft. „Man muss auch darüber reden, dass Jugendliche genauso unter Einsamkeit leiden können. Das können sich viele Erwachsene vielleicht nicht vorstellen, denn die Auffassung, dass Jugendliche eh ständig am Handy und in Kontakt mit Gleichaltrigen sind, ist vorherrschend. Da entsteht aber ein falsches Bild, denn wenn sie am Handy sind, heißt das nicht zwingend, dass sie nicht einsam sind.“, verdeutlicht die Leiterin der Notrufnummer „147-Rat auf Draht“. Die Zielgruppe der Notfallstelle sind vor allem Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 18 Jahren, aber auch junge Erwachsene bis 24. Außerdem werden auch Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen betreut. Die meisten Anrufe kämen von Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren. Nach dem Gespräch wird häufig an zuständige Stellen weitergeleitet, oft auch begleitet mithilfe einer Konferenzschaltung. Anders als beim „redentutgut“-Telefon falle auf, dass etwas mehr Jungen anrufen als Mädchen, während die ebenfalls verfügbaren Chatmöglichkeiten vermehrt von Mädchen genutzt werden.
Bei „147-Rat auf Draht“ kann rund um die Uhr anonym über jedes beliebige Thema gesprochen werden. Neben schulischen und familiären Problemen oder psychischen Krankheiten stehe eben auch Einsamkeit auf der Agenda. Corona habe in diesem Bereich vor allem unter den Jugendlichen viel verändert. Das Narrativ der „Superspreader“ habe Jugendliche im öffentlichen Diskurs eher in ein negatives Licht gerückt. Junge Menschen hätten oft das Gefühl gehabt, über ihre Bedürfnisse und Wünsche werde im Covid-19 Kontext kaum gesprochen. Erst nach der Pandemie sei auch die psychische Gesundheit bei Jugendlichen in den Vordergrund gerückt und das Thema sollte auch in Zukunft noch viel stärker diskutiert werden, so die Sprecherin des Notruftelefons.
„Seit es wieder mehr Möglichkeiten gibt und sich die Covid-19 Situation beruhigt hat, hat sich die Einsamkeit bei Jugendlichen zwar leicht verbessert, aber für viele ist es weiterhin schwierig, wieder mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten und sie haben eine gewisse Scheu entwickelt.“, schildert die Interviewpartnerin. Hinzu käme, dass sich in dem Alter auch körperlich viel verändert und manchen Jugendlichen sei es vor anderen unangenehm, dass sie anders aussehen als vor Corona. Auch Probleme mit der Familie, ein eher ruhigerer Charakter, schulische Herausforderungen oder ein starker Fokus auf Soziale Medien können dazu führen, dass sich junge Menschen immer mehr zurückziehen. Im Gespräch könne es dann beispielsweise helfen, gemeinsam herauszufinden, wie die Situation war, bevor sich die Einsamkeit manifestierte, und den Betroffenen Mut zu machen, sich wieder mit anderen auszutauschen. Außerdem sei es entscheidend, dass unmittelbare Bezugspersonen auf Anzeichen achten und hellhörig werden, wenn Jugendliche sich vermehrt zurückziehen oder ihr Verhalten ändern. Solche Veränderungen seien ernst zu nehmen und es könne helfen, wenn Bezugspersonen das Gespräch suchen.
Einsamkeit ist also nichts Seltenes und jede demographische Personengruppe kann betroffen sein. Hilfsangebote wie die beschriebenen können Menschen helfen, sich gehört und verstanden zu fühlen. Gleich unten könnt ihr Links zu den im Text vorgestellten Beratungsstellen finden, fall auch ihr mit diesem Thema zu kämpfen habt oder jemand kennt, der sich oft einsam fühlt. Auch Menschen, die sich gerne im Kampf gegen Einsamkeit engagieren wollen, finden dort Möglichkeiten sich einzubringen.
Quellen
[1] https://www.derstandard.at/story/2000143111319/rauch-ende-juni-laufen-corona-krisenmassnahmen-aus
[3] https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog149/
[4] https://science.orf.at/stories/3211383/
Projekte gegen Einsamkeit
https://gesundheitsziele.wien.gv.at/plattform-gegen-einsamkeit-in-oesterreich/