Kenne deine Rechte

Cancelling Cancel Culture?


Seit dem Wahlerfolg Donald Trumps im November vergangenen Jahres war wieder viel vom Recht auf freie Meinungsäußerung die Rede. Trump versprach, diesem angeblich außer Kraft gesetzten Recht wieder zur Geltung zu verhelfen. Doch was steht hinter dieser Auseinandersetzung? Geht es hier wirklich um eine Reaktion auf Rechtsmissachtungen und Rechtsverletzungen? Oder soll der Bezug auf freie Meinungsäußerung Maßnahmen legitimieren, die zur Erosion der Demokratie beitragen?

Eine der ersten Amtshandlungen Donald Trumps in seiner zweiten Amtszeit war, einen Erlass zu unterschreiben, der das Recht auf freie Meinungsäußerung wiederherstellen sollte. Elon Musk wiederum behauptet, ein „free speech absolutist“ zu sein und warf europäischen Staaten vor, die Freiheit ihrer Bürger zu beschränken; eine Kritik, in die Vizepräsident Vance einstimmte. Zunächst sollte in diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass die Position des ‚free speech absolutist‘ auf einem groben Missverständnis beruht. Es gibt kein Recht, das absolut ist. Die Grundlage einer jeden demokratischen und liberalen Gesellschaft ist ein System an Rechten, die jedes für sich unveräußerlich sind, aber die sich gegenseitig auch begrenzen und gegeneinander abgewogen werden müssen. So ist auch das Recht auf freie Meinungsäußerung ein bedingtes Recht, das seine Grenze dort hat, wo andere Rechte durch dessen Ausübung beschränkt werden. So gibt es kein Recht auf Beleidigung, Verhetzung oder Bedrohung. Wenn es also so etwas wie absolutes Recht geben soll, dann kann damit am ehesten die Gesamtstruktur grundlegender Rechte gemeint sein, die die absolute Voraussetzung für das Funktionieren einer liberalen Demokratie darstellt. Aber selbst hier ist die Verwendung des Worts ‚absolut‘ problematisch. Demokratie ist nämlich auch die Ablehnung der Kategorie des Absoluten. Selbst Verfassungen und Grundrechte stehen prinzipiell zur Disposition, nur dass eine Änderung dieser nicht Gegenstand einfacher Mehrheitsentscheidungen sein kann, sondern im besten Fall Zweidrittelmehrheiten oder Ähnliches erfordert.

Wenn alles zur Disposition steht, dann braucht es Verfahren, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können, da eine absolute Instanz nicht als Grundlage herangezogen werden kann. Diese Verfahren sind immer politisch, aber es gibt jene, die politisch im engeren, und jene, die politisch im weiteren Sinn sind. Politisch im engeren Sinn ist all das, was sich auf einen ordentlichen Gesetzgebungsprozess bezieht, das heißt Wahlen zur Bildung eines legislativen Körpers oder zur Besetzung von exekutiven Ämtern, der Beschluss und die Ausführung von Gesetzen sowie die Auslegung dieser durch die Judikative. Das Gesetz, das zu Recht wird, ist in einer rechtsstaatlichen Ordnung der Kern des Politischen im engeren Sinn. Solange Macht sich nur auf die Legitimität des Legalen berufen kann, ist das Gesetz das entscheidende Vehikel der Macht. Aber im weiteren Sinn ist Politik viel mehr als das. So sind demnach auch der öffentliche Diskurs und organisierte Meinungsvertretung und Überzeugungsarbeit aller Art politisch, denn auch sie tragen zu einer prinzipien- und normenorientierten Selbstorganisation der Gesellschaft bei und bilden Machtverhältnisse sowohl ab als auch aus. Eventuell lässt sich bei allen Handlungen, die man als politisch bezeichnen kann, ein Verweis auf das Gesetz und die gesetzliche Ordnung herstellen, aber in vielen der Praktiken, die man der Politik nur im weiteren Sinn zuordnen kann, ist ein solcher Verweis nur indirekt gegeben.

Was heißt das nun alles für die Debatte um das Recht auf freie Meinungsäußerung? Seit über einem Jahrzehnt werden von einem konservativen, zentristischen und altlinken Kommentariat die Auswüchse einer vermeintlichen ‚Cancel Culture‘ bekrittelt, die die freie Meinungsäußerung einschränken würden. ‚Cancel Culture‘ und die Kritik daran spielen sich nun aber im Bereich des Politischen im weiteren Sinne ab. Unmittelbarer Gegenstand der Debatte ist nicht das Gesetz und das gesetzgebende Verfahren, sondern ein demokratisches Prozedere der anderen Art, nämlich der öffentliche Diskurs. Auch hier geht es letztlich um Konsens und allgemeine Geltung, aber nicht um Verbindlichkeiten, die sich rechtlich durchsetzen ließen. Das, was gesagt werden kann, wird kulturell und diskursiv abgesteckt. Wird also jemand für seine private Rede durch einen privaten Arbeitgeber entlassen, so lässt sich vielleicht das Arbeitsrecht und der Arbeitnehmerschutz verbessern, aber es liegt keine Zensur vor. Ein privater Akteur hat sich dem öffentlichen Druck, der sich über die Medien und den öffentlichen Diskurs aufgebaut hat, gebeugt. Die Kritik an solchen Vorgängen ist wiederum ebenso kultureller Natur und zielt darauf ab, dass die Bildung und Äußerung öffentlicher Meinung eine andere Form annehmen, nicht aber auf eine staatlich sanktionierte Durchsetzung einer solchen Veränderung.

In seiner hitzigsten Form kann man von einem Kulturkampf sprechen, in dem aufs Bitterste darum gestritten wird, die Meinungshoheit in der Öffentlichkeit und somit substanziellen Einfluss auf die Handlungsweisen privater Akteure zu erlangen. Wenn man nun aber versucht, einen solchen Kulturkampf mit den Mitteln der Politik zu gewinnen, verlässt man den Boden der Demokratie. Denn ein solcher Versuch umfasst notwendigerweise die staatliche Vorgabe von Meinung und Einschränkungen der freien Rede, die sich nicht mit dem grundlegenden demokratischen System der Rechte in Einklang bringen lässt. Wenn man ‚Cancel Culture‘ also ‚cancellen‘ möchte, kann man das auf demokratischem Weg nur kulturell und somit über die Kanäle öffentlicher Rede tun. Denn das Recht auf freie Meinungsäußerung, so wie es verfassungsmäßig kodifiziert ist, ist durch solche kulturellen Auseinandersetzungen noch nicht gefährdet. Deswegen ist ‚Cancel Culture‘ selbst keine Gefahr für dieses grundlegende Recht. Diejenigen, die jedoch im Namen dieses Rechts gegen die ‚Cancel Culture‘ vorgehen, die eine Restauration der verlorengeglaubten freien Rede versprechen und für dieses Ziel Verfahren in Anspruch nehmen, die im engeren Sinn politisch sind, stellen die wahre Gefahr dar. Sie bedrohen die Demokratie in ihren Grundlagen.


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