
Alles sehr ernst
Es gibt einen zentralen Moment in der Fernsehserie Succession, in dem Brian Cox‘ Charakter zu seinen erwachsenen Kindern sagt, „I love you, but you’re not serious people“. „Serious people“: Wenn es eine Kategorie Mensch gibt, die sich 2024 in erster Linie durch ihre Abwesenheit ausgezeichnet hat, ist es jener Schlag von Personen, die sich vor allem über ihre Ernsthaftigkeit definiert. Wo waren die „serious people“, als Donald Trump im November letzten Jahres seine durch die Biden-Präsidentschaft verschobene Wiederwahl gewonnen hat? Wo waren sie bei der österreichischen Nationalratswahl oder bei der rumänischen Präsidentschaftswahl?
Natürlich, wenn es ein Muster gibt, das uns erlaubt, die Ergebnisse des sogenannten ‚Superwahljahres‘ 2024 einzuordnen und zu generalisieren, dann ist es die Ablehnung, das Abstrafen der amtierenden Regierungen. Es war das Jahr, in dem sich der oft kolportierte Amtsinhaberbonus in sein Gegenteil verkehrt hat. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre – Corona, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, die interne Krise Chinas, die im ersten großen, globalen Inflationsgeschehen seit den späten Siebzigerjahren kulminierten, fanden ihren demokratischen Ausdruck in einer die Kontinente umspannende Geste der Zurückweisung: So wollen wir nicht regiert werden. Es gehört zum Wesen der Demokratie, dass sie eine solche Geste zulässt, die Aufforderung darin versteht und dieser Folge leistet: Veränderung. Machtwechsel. Das, was Donald Trump im Jahresübergang 2020/2021 und bis heute nicht akzeptieren kann, dass das Abwählen für die Demokratie fast noch wesentlicher ist als das Wählen selbst, dass jene gestaltlose Entität namens ‚Volk‘ das Recht hat, seinen Willen zu revidieren, das wurde im vergangenen Jahr so deutlich wie kaum zuvor. Jedoch sollte vorsichtig angesichts der Alternativen, die gestärkt wurden, konstatiert werden, dass wir ein ernsthaftes Problem mit der Ernsthaftigkeit haben. Ein Aspekt, der der Demokratie heute fehlt, ist der politische und kulturelle Ernst. We’re not serious people.
Kurze Belehrung: Die Rolle des Staatsbürgers/ der Staatsbürgerin besteht nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten. Demokratie bedeutet nicht einfach die Freiheit, die jeweiligen eigenen Interessen zu vertreten, zu verteidigen, zu verfolgen, Demokratie bedeutet auch Verantwortung, eine allgemeine Verantwortung, die auch dann wahrgenommen werden muss, wenn man die Gegenwart mit Zorn und die Zukunft mit Angst betrachtet. Aber, aber, wird man einwenden, sind es nicht genau solche Belehrungen, die zur Krise der Demokratie geführt haben? Ist es nicht die Arroganz und die Abgehobenheit liberaler Eliten, die abstrakte Begriffe und Diskussionen zirkulieren lassen und sich nicht der echten, ernsten Probleme annehmen, die das Ressentiment wieder zur treibenden Kraft der Politik gemacht haben? All das mag stimmen, und es hat immer gestimmt, wie man es im vergangenen Jahrzehnt immer wieder und wieder wiederholt hat. Politik dürfe nicht belehren. Aber was ist mit dem Rest der Gesellschaft? Kann es eine Kultur ohne moralische Instanzen geben? Anders gesagt, noch zugespitzter: Kann es Zivilisation ohne Ernst geben? Zu moralisieren ist, sich dem Spott preiszugeben. Zu moralisieren ist, an Kirche und Kanzel zu erinnern, an das Oberlehrertum, das geächtete und belächelte Streber- und Petzendasein. Die Moral ist steif und staubig, humorlos und fad. Oder auch einfach: Sie ist ernst.
Immer wieder war es richtig und wichtig in der Geschichte, diesen Ernst zu untergraben. Die Achtundsechziger zelebrierten den Unernst und erreichten damit einen kleinen Triumph der Demokratie. Den Autoritäten wurde ihr Ernst verweigert. Das war eine Befreiung, ein Ausbruch. Wenn wir heute fordern, dass wieder Ernst, Moral, Pflicht Einzug in die Politik halten müssen, dann fordern wir nicht die Rückkehr des falschen Zwangs, dem damals die Legitimität entzogen wurde. Stattdessen geht es darum, der Politik ihren neugewonnenen Status als Unterhaltung wieder abzusprechen, die realen und materiellen Bedeutungen von Abstrakta wie ‚Demokratie‘, ‚Rechtsstaatlichkeit‘, ‚Moral‘, ‚staatsbürgerliche Pflicht‘ aufzuzeigen und einen Ernst einzufordern, der nichts anderes will als das, was ernst ist, ernst zu behandeln. Man kann den existenziellen Herausforderungen, mit denen wir uns heute konfrontiert finden, mit Humor und Nonchalance begegnen. Das hat seine Berechtigung. Wenn es aber den Ernst völlig verdrängt, dann stellt das eine Krise der Demokratie dar, dann zeigt sich das in unernsten Leuten, die plötzlich an der Spitze der Demokratie stehen, und damit beginnen, auf eine sehr unernste Weise, ernsthafte Schritte zu setzen, die Demokratie Schritt für Schritt abzuschaffen. Spätestens dann wird uns das Lachen vergehen.