Kenne deine Rechte

Die missverstandene Stille


Du bist immer so ruhig!“

„Komm mal mehr aus dir heraus!“

„Kannst du überhaupt reden?“

Solche und ähnliche Sprüche haben die meisten introvertierten Menschen vermutlich schon zigfach gehört. Während manche nur genervt die Augen verdrehen, fragen sich andere, ob sie vielleicht wirklich mehr reden sollten. Vermutlich denken sie sogar, dass sie sonst auf andere langweilig oder sogar seltsam wirken, und haben Angst, dass sie dadurch schlechter dastehen. Als Folge dessen möchten sie gesprächiger und geselliger werden und sich an ihre lauteren Mitmenschen anpassen. Wieso sie das aber gar nicht müssen und was Introversion genau ist, wird in diesem Beitrag erklärt.

Vorneweg: Nicht alle introvertierten Menschen sind gleich. Es gibt z. B. auch „extrovertierte Introvertierte“, die sehr wohl viel reden und auf andere gesellig wirken, allerdings genauso wie alle anderen Introvertierten viel Zeit für sich brauchen und ihre sozialen Batterien regelmäßig aufladen müssen. Zudem gibt es natürlich auch Menschen, die unter einer Angststörung leiden und deswegen nicht mit anderen reden können oder sich isolieren. Dieser Beitrag beschäftigt sich jedoch mit introvertierten Personen, die von Natur aus nicht viel reden und gerne allein sind und aufgrund dessen von anderen oft missverstanden werden.

Viele Menschen, aber wenig Verständnis

Introvertierte Menschen sind eher in sich gekehrt und ruhig. Sie beobachten eher, anstatt sich selbst aktiv einzubauen. Zusätzlich brauchen sie viel Zeit für sich allein und fühlen sich ausgelaugt, wenn sie zu lange unter Menschen sind. Diversen Studien zufolge sind ca. 30 bis 50 % der Weltbevölkerung eher introvertiert[1]. Obwohl das gar nicht so wenige Menschen sind, fühlen sich die Betroffenen oft seltsam oder sogar minderwertig wegen ihrer Introversion. Dies liegt vermutlich in erster Linie daran, dass die meisten Personen – unabhängig davon, wie extro- oder introvertiert sie sind – es als selbstverständlich ansehen, viel mit anderen zu reden und generell gerne unter Menschen zu sein. Tut man das nicht, fühlt man sich daher schnell wie ein Alien und fragt sich vielleicht sogar, ob etwas mit einem nicht stimmt.

Weder ängstlich noch arrogant

Viele nicht-introvertierte Menschen denken, Introvertierte seien schüchtern und ängstlich. Das ist meistens aber gar nicht der Fall. Zwar gibt es natürlich Leute, die introvertiert und zusätzlich schüchtern oder ängstlich sind – Introversion allein bedeutet allerdings wie bereits erwähnt nur, dass eine Person eher in sich gekehrt ist. Der Unterschied zwischen introvertierten Menschen und schüchternen, ängstlichen Menschen liegt also darin, dass Letztere sich oft nicht trauen, auf andere zuzugehen oder andere anzusprechen, während Introvertierte das meistens einfach nicht wollen. Wenn eine außenstehende Person merkt, dass ein introvertierter Mensch eigentlich gar nicht schüchtern, sondern vielleicht sogar sehr selbstbewusst ist, wird er daher auch oft für arrogant gehalten. Hierbei muss man jedoch bedenken, dass der Grund, wieso Introvertierte nicht viel mit anderen reden, nicht darin liegt, dass sie sich für etwas Besseres halten oder sich einfach nicht bemühen wollen, sondern dass sie jedes Gespräch viel Energie kostet und vor allem oberflächlicher Smalltalk für sie einfach keinen Sinn ergibt.

Der Wunsch danach, sich anzupassen

Introvertierte werden also sehr oft missverstanden und bekommen das auch zu spüren. Seien es verhöhnende Sprüche im Alltag, kein Verständnis in der Schule, wenn sie sich bei Präsentationen unwohl fühlen, oder aber später sogar schlechtere Aufstiegschancen im Berufsleben, weil ihre extrovertierten Kolleg*innen selbstbewusster auftreten[2]. Wer gesprächig und gesellig ist, wirkt auf andere oft sympathischer und charismatischer – und dieses Verhalten ist in unserer Gesellschaft auch allgemein gerngesehen[3]. Dies führt oft dazu, dass introvertierte Menschen das Gefühl haben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, und sich zwanghaft verändern wollen. Die meisten haben vermutlich schon zumindest einmal in ihrem Leben online nach Tipps für Smalltalk gesucht, haben sich selbst dazu gezwungen, auf eine Party zu gehen, auf die sie eigentlich überhaupt keine Lust hatten, oder haben auf andere Art und Weise versucht, mehr wie ihre extrovertierten Freund*innen zu sein, denen es offensichtlich sehr leicht fällt, sich mit anderen Menschen zu unterhalten, und die bestimmt generell viel mehr Spaß am Leben haben.

Die positiven Aspekte der Introversion

Introvertierte Menschen können aber genauso Spaß haben. Nur weil sie vielleicht nicht gerne Party machen, heißt das nicht automatisch, dass sie langweilig sind. Sie bevorzugen meistens eher ruhige Aktivitäten, wie Lesen oder Zeichnen, aber das sind genauso wertvolle Hobbys wie alle „lauten, geselligen“ Tätigkeiten. Zusätzlich sind sie gute Zuhörer*innen und haben eine gute Auffassungsgabe. Die meisten von ihnen arbeiten sehr genau und merken sich jedes kleinste Detail, das anderen nicht einmal auffallen würde. Wenn sie eine Person erstmal besser kennengelernt haben, reden sie mit dieser außerdem meistens auch mehr, und führen generell tiefgründigere Beziehungen, wenn auch mit wenigeren Personen. Hinzu kommt, dass Introversion ein Charakterzug ist, den man nicht einfach so ablegen oder ändern kann. Und das ist auch in Ordnung – introvertierte Menschen dürfen so sein, wie sie sind, und müssen sich nicht verändern.

Mehr Verständnis und Akzeptanz

Will man eine introvertierte Person also nicht vor den Kopf stoßen, sollte man geduldig sein und ihre Verhaltensweisen akzeptieren. Sprüche wie „Rede doch mehr!“ oder „Sei nicht so langweilig!“ sind ein absolutes No-Go. Introvertierte Menschen sind nicht langweilig – was tatsächlich langweilig wäre: Eine Welt, in der alle Menschen gleich sind. Man muss Introvertierte aber auch nicht bemitleiden, man sollte ihnen gegenüber einfach mehr Verständnis zeigen. An ihnen ist nämlich nichts falsch und sie müssen sich auch nicht an ihre lauteren Mitmenschen anpassen, um die gleichen Chancen zu verdienen.


Zum Abschluss noch drei Leseempfehlungen:

  • Blogposts der Website Introvert, Dear
  • Buch Still: Die Kraft der Introvertierten von Susan Cain
  • Comic Quiet Girl von Debbie Tung

[1] https://introvertdear.com/news/there-might-not-be-as-many-extroverts-in-the-world-as-we-think-science-says/

[2] https://observer.com/2017/01/introverts-underrepresented-managerial-positions/

[3] https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/psyche/psychische-gesundheit/extrovertiert-introvertiert-1071014#Auu00DFenwelt_verstu00E4rkt_extrovertiertes_Verhalten-1071014


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