Kenne deine Rechte

Migration und die Grenzen der Demokratie


Nach dem jüngsten Untergang eines Flüchtlingsschiffs im Mittelmeer, bei dem hunderte Menschen ihr Leben verloren haben, ist in Europa die Debatte darüber wieder aufgeflammt, wie mit Asyl und Migration umgegangen werden soll. Es ist ein komplexes Thema, das keine einfachen Antworten zulässt. Hier soll nur eine Annäherung versucht werden und die Thematik in Bezug auf grundsätzliche Fragen zu Demokratie, Staat und Nation gebracht werden.

Es hat sich in den vergangenen Jahren erwiesen, dass massenhafte, ungeordnete Migration eine destabilisierende Wirkung auf Europas Demokratien ausübt und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien mit bisweilen faschistoiden Tendenzen den Weg ebnet. Wie kann man dem begegnen? Rhetorische Beschwichtigung bei unveränderter Politik ist nicht zielführend. Gleichzeitig tut politische Verschärfung der rhetorischen Aufrüstung rechtspopulistischer Parteien nicht unbedingt Abbruch. Eine völlige, radikale Abkehr von der bisherigen Politik scheint sowieso unmöglich, denn man wähnt sich ohnmächtig angesichts historischer Urkräfte, die jenseits politischer Gestaltungsmöglichkeit liegen: Migration als Naturgewalt. Es wurde auch schon des Öfteren konstatiert, dass ohne eine massive, wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen, die in Krieg, Armut, Hunger, globaler Ungleichheit und Klimawandel bzw. Klimakatastrophen bestehen, keine sinnvolle Lösung erreicht werden kann, die darin bestehen würde, einerseits Migration nach Europa zu beschränken und anderseits die Rechte und die Würde der Flüchtenden zu wahren. Dem ist sicher beizupflichten. Dennoch muss es in Europa auch eine grundsätzliche Debatte darüber geben, was Migration für das eigene politische Modell bedeutet, welchen Stellenwert Migration in den eigenen Gesellschaften und Wirtschaften hat und mit welchen leitenden Prinzipien man sich der Thematik stellen will.

Eine Welt ohne Grenzen?

Eine solche Debatte hat auch die Institution Staat zu berücksichtigen. Einfach die massenhafte und weitgehend ungeordnete Migration zu begrüßen, ignoriert nicht nur die politische Realität, in der eine Destabilisierung befürchtet wird, was zur Öffnung des politischen Raums für reaktionäre Kräfte führt, sondern missachtet einige Grundprinzipien des europäischen politischen Modells. Zum Beispiel haben Grenzen für Nationalstaaten eine klare strukturelle Funktion, in dem sie das Territorium definieren, über das der Staat Souveränität ausübt. Innerhalb des Schengenraums ist dieses Prinzip zwar aufgeweicht, jedoch nur deswegen, weil es mit der Europäischen Union eine überstaatliche Instanz gibt, die in gewissen Bereichen eine höhere Souveränität darstellt. Außerdem hebt das Schengenabkommen keine Grenzen auf, sondern erleichtert nur deren Überquerung. Was wäre nun eine Welt ohne Grenzen? Es wäre eine Welt ohne klar definierte staatliche Territorien, sprich Zuständigkeitsbereiche. Nach welchem Recht man sich zu richten hat, wäre völlig unklar – an welche Instanz man demokratische Forderungen stellen könnte, genauso wenig. Es wäre eine Welt der wahllosen und beliebigen Machtausübung, in der sich keine Demokratie, nicht einmal ein Staat machen lassen würde. Nun stimmt es, dass Grenzen nicht allein deswegen verschwinden, weil Migranten und Flüchtlinge sie unkontrolliert passieren. Aber es wäre naiv, es nicht zumindest als Herausforderung für die territoriale Integrität eines Staates zu sehen. Gleichzeitig ist die völlige Undurchlässigkeit von Grenzen eine autokratischer (Alp-)Traum, der keinesfalls Realität werden sollte.

Was heißt das nun aus praktischer Sicht?

Die Forderung nach Kontrolle und Beschränkung von Migration jeglicher Art ist politisch legitim. Es liegt in der Souveränität von Nationalstaaten, Grenzübertritte in das eigene Territorium zu kontrollieren, zu regulieren und zu limitieren. Doch das Recht des Staates auf territoriale Integrität kann nicht gegen die Rechte von Migrierenden ausgespielt werden. Fundamentale Menschenrechte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht auf ein faires Verfahren, müssen auch für Nicht-Staatsbürger gelten. Das heißt auch, dass die Rettung von Migrierenden, die in Seenot geraten, für Europa nicht nur eine ethische Pflicht sein sollte.

Jedoch muss auch ein System geschaffen werden, wo die gefährliche Überfahrt den Migrierenden keinen Vorteil verschafft, denn sonst wird es immer einen Anreiz geben – trotz der großen Gefahren – eine solche auf sich zu nehmen. Konkret würde das zum Beispiel bedeuten, die Möglichkeit zu schaffen, Asylanträge in Botschaften europäischer Staaten im Ausland zu stellen. Jedoch käme es wohl zu einer Flut von Anträgen, die kaum von den Botschaften bewältigen werden könnte. Was auf der Hand liegt ist, dass Europa im Moment versucht, das Stellen von Asylanträgen zu verhindern, damit der eigene ideologische Bluff aufrechterhalten werden kann: nämlich einerseits prinzipiell an einem Recht auf Asyl festzuhalten, aber gleichzeitig politisch nicht zu wollen, dieses Menschenrecht wirklich einzuhalten. Rechtliche und politische Realität müssen zusammengeführt werden, wobei die Wahrung der Menschenrechte eine nicht-diskutable Bedingung sein sollte. Aber die jetzige schizophrene Position ist langfristig nicht tragfähig.

Sieben Thesen zur Migrationsdebatte

Abschließend könnten folgende Thesen eine Art Grundsatzposition beschreiben: 1. Es ist das Recht von Staaten, Migration zu beschränken und Grenzen zu sichern. 2. Auf den Versuch, eine Grenze illegal zu überwinden, kann nicht mit Gewalt geantwortet werden. 3. Es ist das Recht von Individuen, Schutz vor Krieg und Verfolgung zu suchen. 4. Migration ist in den meisten europäischen Staaten notwendig, um die demographische und wirtschaftliche Lage zu stabilisieren. 5. Eine unkontrollierte und starke Migration destabilisiert das politische System und verleiht rechtspopulistischen und rechtsradikalen Gruppen Auftrieb, die die Demokratie gefährden. 6. Das Recht auf Asyl muss gewahrt werden, aber die Erfüllung des Rechts muss gerecht zwischen den Ländern verteilt werden. 7. Jeder Beitrag zu dieser Debatte endet im Widerspruch, weil es einfach keine lineare Lösung des Problems gibt.


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