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Geisteswissenschaften – raus aus dem Elfenbeinturm


Geisteswissenschaftliche Studien, also solche, die sich mit Aspekten wie Sprache, Literatur, Kultur, Geschichte und Denken auseinandersetzen, waren einst hoch angesehen. Heutzutage schwindet ihre Beliebtheit aber immer mehr, und das, obwohl sie wichtige Perspektiven auf komplexe Fragen unserer Welt bieten. KdR hat mit zwei Studierenden gesprochen, um besser zu verstehen, was die Geisteswissenschaften sowohl für unsere Welt im Großen als auch für einzelne Individuen so bereichernd macht und wieso wir mehr auf sie hören sollten.

The End of the English Major” titelte das US-Magazin „The New Yorker” unlängst und verwies damit auf die Krise, in welche die einst so prestigeträchtigen geisteswissenschaftlichen Fächer, in den USA allen voran das Fach Englisch, in den letzten Jahren gerutscht sind. Doch nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch hierzulande ist diese Krise spürbar. Ehemals hoch angesehene und beliebte Studienrichtungen, wie verschiedene sprachliche und künstlerische Fächer, Geschichte und Philosophie, haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte vielmehr zu einer Art Nischenhobby entwickelt. Laut Statistik Austria entfielen im Wintersemester 2020/21 gerade einmal 13,9% aller belegten Studien auf geisteswissenschaftliche Fächer. Noch vor etwa 10 Jahren waren doppelt so viel Prozent aller Inskriptionen an wissenschaftlichen Universitäten den Geisteswissenschaften zuzurechnen. Und auch aus einer historischen Perspektive ist der Ursprung der modernen Universitäten eng mit den Geisteswissenschaften verknüpft, die schon seit dem Mittelalter als zentraler Teil der sogenannten „Sieben freien Künste“ große Bedeutung genossen. Das aktuelle Desinteresse an diesen Fächern steht dabei im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Tendenzen, die geisteswissenschaftliches Wissen und Forschung geringschätzen: Gelerntes müsse immer unmittelbar nützlich oder verwertbar sein, und die Technologisierung unserer Welt führt zu erhöhtem Interesse an technischen Studienfächern. Die Geisteswissenschaften sind in dieser Dynamik oft die Verlierer. Und das, obwohl sie gerade in Hinblick auf viele akute Fragen und Problemstellungen der heutigen Welt wertvolle Perspektiven und wichtige Antworten liefern, die es wert sind, gehört zu werden. Das finden auch zwei junge kluge Köpfe, die aus ihrem Studium wertvolle Erfahrungen mitnehmen konnten und mit denen Kenne deine Rechte für diesen Beitrag gesprochen hat: Christiane Lenz und Michael Meister. Beide studieren im Bereich der Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften. Und beide sehen einen Mehrwert in ihrem Studium, sowohl für sich selbst als auch für die Gesellschaft.

Im Elfenbeinturm?

Die Gründe für den aktuellen Interessensschwund an geisteswissenschaftlichen Studien sind zum Teil hausgemacht. Geisteswissenschaftliche Forschung erscheint vielen als abgehoben oder gar weltfremd. Die Auseinandersetzung mit verschiedensten Aspekten von Kultur, Sprache, Geschichte und Denken im Allgemeinen wirkt auf zahlreiche Menschen abstrakt und wenig konkret, vor allem in einer Welt, in der viele den Zweck eines Universitätsstudiums vor allem darin sehen, Handwerkszeug für konkrete Berufe bereitzustellen. Dazu kommt, dass manche Forschende in den Geisteswissenschaften wenig unternehmen, um dem Vorurteil der Abgehobenheit entgegenzuwirken. Komplexe Ausdrucksweisen, ein teils elitäres Verständnis von Bildung und ein starker Fokus auf Nischenphänomene vonseiten einer geisteswissenschaftlichen Elite führen dazu, dass sich das Klischee von Forscher:innen im Elfenbeinturm hartnäckig hält. Das Problem liegt dabei für Christiane weniger in der Erforschung von Spezialphänomenen, sondern in der Schwierigkeit, geisteswissenschaftliche Ergebnisse für die Allgemeinheit verständlich zu machen: „Ein Fokus auf Details ist notwendig, man kann sich nicht einfach ein komplettes Feld anschauen. Das machen ja Physiker:innen auch nicht. Aber es ist wahrscheinlich einfacher, als Naturwissenschaftler:in ein Ergebnis in Prozenten auszudrücken, als eine geisteswissenschaftliche Erkenntnis in Worte zu fassen, die jede:r versteht.“

Wegen dieser Schwierigkeit, komplexe Phänomene klar darzustellen, gibt es in den letzten Jahren vermehrt Bemühungen, Forschung besser verständlich zu machen. Wichtige Schritte in diesem Zusammenhang sind Bestrebungen zur Vereinfachung von Wissenschaftssprache und zur Öffentlichkeitskommunikation – und in diesen Entwicklungen spielen die Geisteswissenschaften dank ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Sprache eine wichtige Rolle. Das Feld, das oftmals als sprachlich komplex wahrgenommen wird, arbeitet also selbst an seiner Verständlichmachung – eine vielversprechende Entwicklung. Neben sprachlichen Hürden in der Kommunikation sieht Michael aber auch einen wesentlichen Bedarf an Kooperation und Kommunikation mit Forschenden aus anderen Disziplinen: „Ein Grund, aus dem die Geisteswissenschaften vielleicht oft ein schlechtes Image haben, ist, dass der Dialog oft nicht so funktioniert, aber sehr wertvoll wäre. Denn ohne diesen bleiben wichtige Effekte aus.“ Geisteswissenschaftliche Standpunkte seien vielmehr in die Bevölkerung und andere Fachbereiche zu tragen, so Michael, denn sie könnten wesentliche Impulse zur Gestaltung inklusiverer Gesellschaften setzen.

Akute Probleme

Die Problemstellungen, mit denen sich die Geisteswissenschaften auseinandersetzen, sind dabei vielfältig. Häufig finden sich in den Philologien (sprachlichen Fächern) neben historischen Aspekten vor allem Themenschwerpunkte, die gerade in der heutigen Welt von besonderem Interesse sind. So setzt sich Michael insbesondere mit der Klimakrise aus Sicht der Umweltgeisteswissenschaften, der environmental humanities, auseinander. Er analysiert, wie die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen in literarischen Werken aufgearbeitet wird. Ein wichtiger Blickwinkel ist dabei die Frage der Kommunikation über dringliche Themen: „In den environmental humanities wird oft darüber diskutiert, dass viele Dialoge, die wir führen, übermäßig aggressiv sind oder sehr viel mit Schock und Angst arbeiten. Das ist teilweise ein notwendiges Mittel, weil die Gesellschaft vor allem bei Umweltthemen schläft. Aber es ist hier eine Balance zu finden, damit man es schafft, eine gewisse Dringlichkeit zu vermitteln, ohne dass die Menschen abgeschreckt werden, sondern aktiv werden und reagieren.“ Auch Christiane ist überzeugt, dass sie geisteswissenschaftliche Perspektiven aus ihrem Studium gut mit ihrer Arbeit im künstlerischen Bereich verbinden kann, um gesellschaftliche Prozesse in Bewegung zu bringen: „Spannend ist zu sehen, was geisteswissenschaftliches Wissen, z.B. über Literatur und Theater, zu Gesellschaftsentwicklung beitragen kann. Und an der Schnittstelle bewegt sich performative Kunst, mit der ich mich näher beschäftige. Besonders, wenn sie im öffentlichen Raum stattfindet.“

Neben Feldern wie den environmental humanities und verschiedenen öffentlichen Kunstformen setzen sich die Geisteswissenschaften auch mit anderen gesellschaftlich hochrelevanten Fragen auseinander. Auf dem Programm stehen dabei neben Themen wie Rassismus sowie Gender und Sexualität auch Aspekte der Repräsentation von Minderheiten in der Populärkultur, Manipulation durch Sprache in Werbung und Politik oder auch Fragen des gelungenen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ein besonderer Fokus liegt dabei häufig auf Fragen der Inklusivität und der Unterstützung benachteiligter Gruppen. So wurde beispielsweise vor kurzem an der Universität Graz ein Forschungszentrum für Alterns- und Care-Forschung gegründet, das u.a. aus geisteswissenschaftlicher Perspektive erforscht, was es bedeutet, gut zu altern und sich um seine Mitmenschen zu kümmern. Solche Fragestellungen werden kritisch und differenziert beleuchtet, und erlauben es, die Welt in möglichst vielen Facetten zu sehen – und darin liegt laut Christiane auch der große Mehrwert der Geisteswissenschaften, nämlich „dass man lernt, wirklich sehr gut Graustufen zu erkennen.“

Politische Ignoranz

Trotz dieses Fokus auf brennende gesellschaftliche Probleme bleiben geisteswissenschaftliche Perspektiven oftmals auf der Strecke. Die Gründe dafür sind vielfältig. Christiane ortet einen grundsätzlichen Unwillen der Politik, sich mit Forschung zu beschäftigen: „Die Frage ist, welchen wissenschaftlichen Positionen die Politik überhaupt Gehör schenkt, ganz egal, ob sie jetzt aus den Naturwissenschaften oder den Geisteswissenschaften kommen. Naturwissenschaftler:innen warnen zum Beispiel schon seit Ewigkeiten vor der Klimakrise  – das haben wir auch nicht wirklich geschafft ernst zu nehmen.“ Besonders, wenn Erkenntnisse aus der Forschung nicht in das politische Programm einer Partei passen, scheint die Ignoranz wissenschaftlicher Forschung gegenüber gang und gäbe zu sein. So zeigen z.B. Studien aus der Soziolinguistik, einem geisteswissenschaftlichen Gebiet, das sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Gesellschaft auseinandersetzt, welche verheerenden Folgen Einschränkungen des Sprachgebrauchs von Sprachminderheiten nicht nur auf die Psyche und Identitätskonstruktion, sondern auch den Spracherwerb der betroffenen Gruppe haben können. Dennoch wird in Österreich seit Jahren, insbesondere von FPÖ und ÖVP, die Debatte rund um eine Deutschpflicht am Pausenhof immer wieder angeheizt.

Ein weiteres Grundproblem liegt in der gesellschaftskritischen Perspektive der Geisteswissenschaften, die in vielen Beriechen an Traditionen und vermeintlichen Selbstverständlichkeiten rüttelt. Das, was schon immer so war, zu hinterfragen, ist nicht immer angenehm, liefert aber wichtige Impulse für inklusive und nachhaltige Zukunftsentwicklungen. Doch um diese anzustoßen, brauche es wiederum Bemühungen von verschiedenen Seiten, wie Michael betont: „In den Geisteswissenschaften können wir in der Theorie so viele Lösungsansätze für große Probleme entwickeln. Wenn es um konkrete Veränderungen, z.B. in der Ökonomie oder Technologie geht, sind wir aber auf die Zusammenarbeit mit anderen Expert:innen angewiesen, weil uns in diesen Bereichen die Expertise fehlt.“ Diese fachübergreifende Zusammenarbeit erscheint in der heutigen Welt besonders dringlich. Doch gerade die von Michael angesprochene Ökonomie ist ein Bereich, in dem geisteswissenschaftliche Perspektiven oftmals nur belächelt werden, weil sie eben häufig nicht in die dominante wirtschaftliche Ordnung passen, wie Christiane aufzeigt: „Wenn eine Perspektive nicht in eine kapitalistische Struktur passt, dann wird sie einfach ignoriert. Und es ist halt bei geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen so, dass diese nicht immer auf ‚Gewinn‘ abzielen.“ Auch die Kritik an gesellschaftlichen Ausbeutungsmechanismen in neoliberalen Systemen und die Abwertung von Menschen zu Gütern sind in den Geisteswissenschaften dominant vertretene Perspektiven und machen sie somit zu unangenehmen Playern in einem kapitalistischen System. Trotz der geringen Beachtung, die solche kritischen Perspektiven in manchen Fächern genießen, dürften die Geisteswissenschaften nicht aufhören, ihre Positionen zu vertreten, denn, so Michael: „Die Geisteswissenschaften halten am Ende des Tages die Waagschalen im Gleichgewicht.“

Zukunftsperspektiven

Das Herstellen dieses Gleichgewichts kann aber auf lange Sicht nur dann gelingen, wenn die Geisteswissenschaften es schaffen, ihren Halt in der hiesigen Forschungslandschaft wieder stärker zu sichern und Studierende für sich zu begeistern. Dazu braucht es Schritte von mehreren Seiten. Einerseits erscheint die Kooperation mit anderen Fachrichtungen unerlässlich. Geisteswissenschaftliche Forschung besitzt Schnittstellen mit zahlreichen anderen Bereichen, sei es Technologie (z.B. ethische Dimensionen von künstlicher Intelligenz und Algorithmen), Medizin (z.B. Ärzt:innen-Patient:innen-Kommunikation), Wirtschaft (z.B. kritische Perspektiven auf Wirtschaftsdiskurse) oder Recht (z.B. Fragen der Gerechtigkeit in Hinblick auf Rechtssprache/Sprache vor Gericht). Doch diese Schnittstellen müssen von den Forschenden aktiv und sinnvoll genutzt werden. Dies kann nur dann geschehen, wenn Forscher:innen beginnen, die Zusammenarbeit mit anderen Fächern nicht als Gefährdung für das eigene Fach, sondern vielmehr als Bereicherung zu sehen. Andererseits ist es aber auch notwendig, dass auf systemischer Ebene geisteswissenschaftliche Forschung entsprechend gefördert wird. Dazu braucht es die Errichtung von entsprechenden Lehrstühlen und Forschungszentren an Universitäten sowie die Schaffung von langfristigen, sicheren Perspektiven für Jungforscher:innen in den Geisteswissenschaften. Auf diese Art und Weise kann es ermöglicht werden, dass die Geisteswissenschaften ihre wertvollen Perspektiven stärker entfalten und diese auch in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen können. Denn geisteswissenschaftliche Forschung ist sowohl hochrelevant als auch persönlich bereichernd. „Weil es unglaublich wichtig ist, in einer Welt, wie sie aktuell aussieht, kritisch zu denken und sich über die Dinge, die man aktiv oder passiv konsumiert, Gedanken zu machen“, ist Christiane überzeugt. Und Michael betont: „Die Geisteswissenschaften können uns vor allem eines lehren: Nur weil etwas anders ist, ist es nicht automatisch schlecht. Wenn wir diese Botschaft in der Gesellschaft verankern könnten, dann könnten wir so viele Dinge verbessern.“


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