Kenne deine Rechte

Ich vs. die Stimme in meinem Kopf


Der Wecker läutet. Ich drücke ihn ab und setze mich auf. Es ist viel zu früh. Ich leg mich wieder hin, die Knie angewinkelt, den Kopf vergraben – Embryostellung. So bleibe ich für mehrere Minuten und denke über die Tatsache meiner Existenz und den kommenden Tag nach. Ich will nicht. Ich könnte auch einfach zu Hause bleiben. Es würde nicht auffallen. 15 Minuten sind inzwischen vergangen. Ich hieve mich tief einatmend aus dem Bett und starte meine Routine mit einem Seufzer. Ich brauche für alles viel zu lange. Wozu der ganze Aufwand? Mir wird nicht gefallen, was ich im Spiegel sehe, unabhängig von der Menge an Make-up und der Zeit, die ich gebraucht habe, um ein Outfit auszusuchen. Ich stehe vor dem Schrank und starre ins abyss der Kleidungshaufen. In meinem Kopf gehe ich unzählige Kombinationen durch: die eine zu eng, in der werde ich mich nicht wohl fühlen; die nächste zu bold, dafür habe ich zu wenig Selbstbewusstsein; und so weiter. Nach einer Ewigkeit habe ich mich dann wenig überraschend für das entschieden, was ich immer trage.

Warum bin ich so?

Irgendwann schaffe ich es aus der Wohnung. Ich bin auf dem Weg zum Bus. Der Bus kommt – wie immer zu voll. Das Einsteigen ist eine Qual. Es fühlt sich so an, als ob mich alle anstarren würden; ich weiß sie tun es. Die Busfahrt dauert eine ganze Lebensspanne lang. Ich tue so, als würde ich die anderen ausblenden, auch wenn ich am liebsten jeden Augenblick checken würde, ob und wie ich angeschaut werde. Wieso können andere nicht verstehen, dass Dinge, die für sie selbstverständlich sind und über die sie nicht nachdenken, mich Überwindung kosten. Für „selbstverständlich“ sind bei mir oft mentale Vorbereitung, Nerven und eine gute Tagesverfassung notwendig.

Wieso kann ich es nicht abschalten?

Ich gehe schnellen Schrittes zur Uni. Ich suche mir einen Platz. Ich habe mir vorgenommen, heute endlich einmal etwas zu sagen. Ich spüre mein Herz schon stärker schlagen, noch bevor ich die Hand hebe und mir noch meine Antwort sorgfältig, Wort für Wort, zurechtlege. Ich rede – kurz. Und als die Diskussion schon um einiges fortgeschritten ist, spüre ich erst die Hitze aus meinen Wangen weichen. Mein Herz schlägt immer noch stärker als normal. Nach der Einheit schaffe ich es schon wieder nicht zu socialisen. Die anderen wirken nett und wie interessante Menschen. Aber ich denke, die würden sowieso nichts mit mir zu tun haben wollen.

Wieso kann ich nicht wie die anderen sein?

Wieder auf dem Weg zum Bus. Ich wette, jede einzelne Person, mit der sich mein Weg kreuzt, hat absolut nichts Besseres zu tun, als mich anzuschauen und über mich zu urteilen. Wieso schauen mich so viele an? Sehe ich so komisch aus? Habe ich etwas im Gesicht? Eine zu große Menschentraube wartet bei der Haltestelle. Ich entscheide mich dazu, zur Wohnung zurück zu spazieren. Ich schließe die Tür hinter mir. Niemand da – wie schön. Ich wechsle in Lichtgeschwindigkeit in meine Jogginghose, mache mir etwas zu essen und schalte meine Serie ein. Eine Nachricht erscheint am Handy.

Wieso muss ich mich verstecken?

Nein, ich möchte mich nicht treffen. Nein, es ist nicht, weil ich dich nicht mag. Ich kann einfach nicht; ich habe keine Energie mehr. Mir gehen die Ausreden aus. Warum brauche ich immer Ausreden? Ich möchte ehrlich sagen, dass ich an manchen – den meisten – Tagen nur sehr beschränkte Kapazitäten für soziale Interaktion habe. Ja, manchmal bin ich froh, es überhaupt aus der Wohnung zu schaffen. Ich kann mich nicht spontan verabreden; ich kann nicht schnell mal Hallo sagen; ich hasse Small Talk. Ich möchte ehrlich sagen, dass mich nicht das Gespräch langweilt, sondern meine Gedanken so laut und zahlreich sind, dass ich mich einfach nicht auf das konzentrieren kann, was du gerade sagst. ich will doch einfach nur verstanden werden.

Wieso kann ich nicht sagen wie es ist?

Ich widme mich wieder meiner Serie, dem Essen, mir selbst. Ich vergesse für die nächste Folge alles um mich herum. Ich lade meine social battery auf. Ich repariere mich, wenn ich alleine bin. Ich lege mich ins Bett und will einschlafen. Es wird noch lange nicht still. Ich bereite mich auf morgen vor. Wieder.

„Eine soziale Phobie beschreibt die Furcht oder Angst vor bestimmten gesellschaftlichen und leistungsbezogenen Situationen. Diese Situationen werden häufig gemieden oder nur unter großer Qual ertragen.“ (Definition nach dem MSD Manual)

Dieser Text soll exemplarisch zeigen, wie es Menschen, die an einer sozialen Phobie leiden, tagtäglich gehen kann (nicht muss). Es soll dadurch den Leser:innen ermöglicht werden, sich etwas besser in diesen Menschen hineinversetzen zu können, um mehr Verständnis und Mitgefühl zu schaffen. Die Autorin möchte sich mit diesem freien Text sensibilisieren und Bewusstsein für den tagtäglichen Kampf schaffen, den viele Menschen still ertragen.


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