
Am Fundament rüttelt man nicht
Dass man in der ÖVP neuerdings gerne über grundlegende Menschenrechte verhandeln möchte, hat zu einem öffentlichen Aufschrei geführt. Gut so, denn wenn man will, dass ein Haus steht, rüttelt man nicht an seinem Fundament.
Als halbwegs politisch interessierter Mensch wundert man sich in diesem Land ja bekanntlich immer wieder einmal. Politischen Populismus, der lang bestehende Errungenschaften – auch im Bereich der Grund- und Menschenrechte – infrage stellt, gibt es schon seit geraumer Zeit. Bis dato stammen solche Angriffe allerdings vor allem aus dem blauen politischen Eck. Umso irritierender mutet es an, dass die ÖVP in den letzten Jahren immer stärker versucht, der FPÖ nicht nur die Themen streitig zu machen, sondern sich auch immer öfter ihrer aggressiven Rhetorik bedient, was zu gefährlichen Relativierungen von Grundwerten führt.
So meinte August Wöginger, seines Zeichens Klubobmann der ÖVP im Parlament, unlängst in einem Interview mit der Tageszeitung DER STANDARD, dass nicht nur das europäische Asylrecht überarbeitet werden müsse, sondern ebenso die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Um welche Aspekte es ihm genau gehe, präzisierte der ÖVP-Politiker nicht näher. Es hagelte harsche Kritik von verschiedenen Seiten, darunter auch von sämtlichen anderen Parlamentsparteien (mit Ausnahme der FPÖ), Bundespräsident Alexander van der Bellen sowie mehreren NGO-Vertreter:innen. Trotz anhaltender Kritik stellte sich am Sonntag der steirische Landeshauptmann Christopher Drexler (ÖVP) hinter seinen Parteikollegen. Zwar erkannte Drexler die ursprüngliche Bedeutung der EMRK an, er kritisierte aber die aktuelle Auslegung der Konvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bemängelte eine „Pervertierung“ der Asylpraxis. Bei der letzten Nationalratssitzung bekannte sich die ÖVP mittlerweile zur EMKR, gemeinsam mit allen anderen Parteien außer der FPÖ.
Dennoch erscheint es angesichts dieser Aussagen an dieser Stelle wieder einmal angemessen, daran zu erinnern, dass Politiker:innen eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe obliegt, die nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist. Und zu dieser Aufgabe gehört auch das Festhalten an einem deutlichen : An menschenrechtlichen Grundfesten rüttelt man nicht. Denn die EMRK ist nicht nur irgendein bedeutungsloses Dokument. Sie ist der Katalog zentraler Grund- und Menschenrechte, der nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs ausgearbeitet wurde und zentrale Aspekte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gesetzlich verbindlich durchsetzbar machen soll. So enthält die EMRK beispielsweise solche Aspekte wie das Recht auf Leben, das Verbot von Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung, das Diskriminierungsverbot u.v.m. Über diesen Katalog verhandeln zu wollen, ist nicht nur eine Farce. Es ist ein brandgefährliches Rütteln an einem Fundament, das unseren demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Staaten zugrunde liegt.
Werte, wie sie der EMRK zugrunde liegen, sind nämlich nicht verhandelbar – jedenfalls solange wir in solidarischen Gesellschaften leben wollen, die den Menschen die Möglichkeit eines freien, selbstbestimmten Lebens ohne Diskriminierung bieten. Es ist also abwegig zu behaupten, dass die EMRK in die Jahre gekommen sei, wie Landeshauptmann Drexler andeutete. Denn die dort verankerten Grundwerte sind zeitlos. Sie bieten Leitlinien, die helfen, Ungleichheit, Unfreiheit und Diskriminierung auf gesetzlicher Ebene entgegenzuwirken. Über die konkrete Auslegung der Leitlinien im Angesicht aktueller Herausforderungen können – und sollen – sich die Richter:innen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte streiten. Und diese entscheiden auf Basis guter richterlicher Praxis. Dass man vonseiten des Gesetzgebers in diese richterliche Praxis durch eine Abänderung der Konvention eingreifen sollte, wie Wöginger und nun auch Drexler vorschlug, ist mehr als bedenklich. Ein solches Vorgehen riecht nämlich weniger nach einer Anpassung an den Zeitgeist, sondern vielmehr nach politischer Einflussnahme auf die Judikative – aus rechtsstaatlicher Perspektive ein höchstproblematisches Vorgehen.
Denn die EMRK ist das Fundament, auf dem sämtliche Rechtsstaaten, die sich der Konvention verpflichtet haben, fußen. Unsere staatlichen Systeme sind somit gewissermaßen Häuser auf dem Boden der EMRK. Die Realität in diesen Häusern verändert sich natürlich im Laufe der Geschichte – hier ist Wöginger und Drexler beizupflichten. Auch ist eines nicht zu leugnen: Die Veränderung bringt durchaus Herausforderungen in Hinblick auf die Gestaltung der Häuser mit sich. Solchen Herausforderungen zu begegnen, kann aber nicht funktionieren, indem man am Fundament der Häuser rüttelt. So löst man nämlich keine Probleme, sondern bringt höchstens die Häuser zum Einsturz.