
Ein Tag im Rollstuhl – So gelingt erfolgreiche Inklusion
Stell dir vor, du gehst durch die Grazer Innenstadt und bist in ein Gespräch mit einem Freund oder einer Freundin vertieft. Plötzlich rennst du, ohne es zu merken, in jemanden hinein. Während du deinen Blick nach unten senkst, siehst du jemanden in einem Rollstuhl. Diese Person hebt die Hand und sagt: „Hallo, hier bin ich!“
Anhand dieser zum Nachdenken anregenden Anekdote wird einem bewusst, wie leicht Menschen mit Behinderungen im Alltag übersehen werden. Auch dieses Jahr hatten das Redaktionsteam von „Kenne deine Rechte“ sowie Interessent:innen die Möglichkeit, sich selbst in den Rollstuhl zu setzen, um am eigenen Leib zu erleben, mit welchen Hindernissen und Diskriminierungen Menschen mit Behinderung im Alltag konfrontiert sind und wie wenig Beachtung sie oft im täglichen Diskurs finden.
Man kann es gar nicht glauben, mit welcher irrsinnigen Lebensfreude und Euphorie der 55-jährige gelernte Landmaschinentechniker Heinz von seinen ersten Erfahrungen und Problemstellungen erzählt, mit denen er sich als damals 17-Jähriger nach einem Autounfall aus dem Nichts auseinandersetzen musste. Heinz ist nämlich einer von 4000 Österreicher: innen, die querschnittsgelähmt und daher in ihrem Leben auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Um selbst so gut wie möglich nachvollziehen zu können, wie es sich anfühlt, in einem Rollstuhl sitzen zu müssen und dabei noch den Alltag zu meistern, begaben wir uns am 6. Juli 2022 im Rollstuhl in die Grazer Innenstadt.
Leben für die Behindertenrechte
Seit seinem Autounfall setzt sich Heinz mit unglaublichem Engagement und Vehemenz als Vorsitzender des Steirischen Monitoringausschusses für Menschen mit Behinderungen für die Rechte und die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung ein. Ganz bestimmt auch wegen seines persönlichen Engagements hat sich insbesondere in Graz in den letzten 40 Jahren viel für die Barrierefreiheit getan. Das Vorzeigebeispiel hierfür ist die Einführung von sogenannten „Behindertentaxis“ bei regulären Taxidiensten, die nun bei einem Grazer Unternehmen mit einem blauen Symbol gekennzeichnet sind, das darauf hinweist, dass in den Fahrzeugen genug Platz für Rollstühle verfügbar ist.
Dass solche Taxis bei diesem Taxiunternehmen nun selbstverständlich sind, war nicht immer so. „Früher wurden Menschen mit Behinderung aus dem öffentlichen Leben verbannt, da man nicht gewusst hat, wie man mit ihnen umgehen soll“, erzählt Heinz. Erst seit dem Anfang der 90er Jahre, als das Bundesbehindertengesetz in Österreich ratifiziert wurde, kam es sukzessive zu Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen. Seit dem Jahr 2005 ist es nun auch möglich, dass aufgrund des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes Schlichtungen durchgeführt werden, wenn sich Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen beispielsweise durch Barrieren ungerecht behandelt fühlen. Jedoch führt dieses Gesetz nicht automatisch zu Reformen seitens des Gesetzes, sondern es kann lediglich auf Schadenersatz geklagt werden.
Menschen mit Behinderung sind in ihrem Alltag oft Behinderungen ausgesetzt – im wahrsten Sinne des Wortes. Heinz betont: „Ich bin in erster Linie Rollstuhlfahrer. Ich bin nicht behindert – ich WERDE behindert“. Auch im Jahre 2022 ist es nicht selbstverständlich, dass barrierefreie Lösungen für Alltagsprobleme vorliegen. Obwohl von diesen Maßnahmen im Übrigen nicht nur Menschen mit Behinderung profitieren würden. Für Heinz ist es besonders wichtig, das zu betonen: „Was für Menschen wie mich Barrierefreiheit bedeutet, bedeutet für euch Komfort.“ Man denke dabei nur an Dinge wie Fahrstühle, automatisch aufgehende Türen oder die Sprachsteuerung von Smartphones. Für Menschen ohne körperliche Beeinträchtigung sind sie Luxus, für Menschen wie Heinz unabdingbare Notwendigkeit.
Alltägliche „unsichtbare“ Schwierigkeiten
Trotz all der positiven Entwicklungen, bleibt weiterhin dennoch viel zu tun. Allein das Rollen auf die Toilette erweist sich oft schon als ein großes Hindernis, wie viele von uns später am eigenen Körper zu spüren bekamen. Es gibt zwar inzwischen Toiletten für beeinträchtigte Menschen, die einheitlich europaweit mit einem Schlüssel, dem „Eurokey“, entsperrt werden können. Jedoch sind diese Toiletten oft nur schwer erreichbar, schlecht gekennzeichnet und nur in sehr spezifischen Quellen auffindbar. Wenn man an einem Ort ist, an dem es keine solche Toilette gibt, ist man oft auf kleine, schmale Toiletten angewiesen, in die ein Rollstuhl kaum hineinpasst. Auch wenn viele Lokale sich „barrierefrei“ auf die Fahnen heften, sind barrierefreie Toiletten selten groß genug und, falls sie geräumig sind, werden sie oft zwischenzeitlich als Abstellkammer für diverse Utensilien genutzt, was wiederum eine Barriere darstellt.
Besonders beim Geld beheben im Rollstuhl wird uns auch bewusst, wie reich an Hindernissen das Leben eines Menschen, der auf seinen Rollstuhl angewiesen ist, sein muss. Generell, was das Thema Geld angeht, fühlt sich Heinz oft nicht ernstgenommen: „Viele Geschäftsinhaber:innen vermitteln den Eindruck, dass sie es nicht für notwendig erachten, für barrierefreie Ein- und Ausgänge sowie Räumlichkeiten, die für Menschen mit Behinderung befahrbar sind, zu sorgen“, erzählt er. Und: „Es wird mir damit indirekt gesagt, dass ich als Mensch im Rollstuhl kein Geld hab, das ich ausgeben möchte. Aber das ist nicht wahr und ich würde gerne mein Geld in der Stadt ausgeben, um unsere städtische Wirtschaft und damit unsere heimischen Betriebe zu stärken. Dies wird mir aber oft verunmöglicht.“
Da erinnere ich mich wieder an die von Heinz angesprochenen Vorteile von barrierefreien Lösungen in Lokalen, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen, die für alle Menschen, mit und ohne Beeinträchtigung, Vorteile bringen. Es schadet nämlich keinem Menschen ohne Beeinträchtigung, wenn die Türe einer Buchhandlung automatisch öffnet und schließt. Wenn dem jedoch nicht so ist, wird Menschen mit Behinderung indirekt der Zutritt zu dieser verwehrt beziehungsweise erschwert. Denn: Inklusion schließt jeden ein, aber auf keinen Fall jemanden aus.
So haben es Graz und die Steiermark mit der Inklusion
Was positiv bei unseren Fahrten im Rollstuhl auffällt, ist die immense Solidarität und Hilfsbereitschaft, die von den Mitmenschen in Graz entgegengebracht wird. Als ein Freund und ich in einem Geschäft für Zeichen- und Malutensilien einkaufen wollten, wurde uns sofort und ohne mit der Wimper zu zucken über eine Rampe im ersten Stock geholfen. Auch Heinz bestätigt diesen Eindruck, den wir über die Hilfsbereitschaft der Grazer:innen gewonnen haben. „Graz ist wirklich eine super Stadt“, erläutert er und teilt mit uns eine seiner vielen Anekdoten aus dem Alltag. Als er an einem Regentag aus seinem Rollstuhl fällt und auf den nassen Gehsteig landet, bremst ein Autofahrer, springt ohne zu zögern aus dem Wagen und hilft ihm zurück in seinen Rollstuhl.
Durch diesen ereignisreichen und lehrreichen Workshop „Ein Tag im Rollstuhl“ wurde uns wieder einmal vor Augen geführt, dass man erst über Dinge urteilen kann, wenn man selbst von ihnen betroffen ist. Oder zumindest, wie wir es gemacht haben, nachdem man sich in die Lage einer benachteiligten Person aktiv hineinversetzt und die Realität für einen kurzen Tag am eigenen Leib zu spüren bekommt. Genau deshalb sind Institutionen wie der Behinderten-Beirat der Stadt Graz so wichtig und es ist sehr zu begrüßen, dass die Steiermark auch im inklusiven Schulbetrieb Fortschritte macht: So gibt es nur hier die Inklusion von Kindern mit Behinderung in Regelklassen.
Egal ob das Rollen über Bordsteinkanten, das Fahren mit der Straßenbahn, das Benutzen eines Geldautomaten oder das Durchzwängen durch spaltbreite Geschäftseingänge, dass solche alltäglichen Tätigkeiten für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, oft eine enorme Hürde darstellen, ist mir erst, als ich selbst im Rollstuhl unterwegs war, bewusst geworden.
Aus diesem Grund lege ich entscheidungstragenden Politiker:innen nahe, selbst einmal einen Tag im Rollstuhl zu verbringen! Damit Anekdoten, wie die im Teaser angeführte, nicht mehr erzählt werden müssen.
Ein riesiges Dankeschön an Cura-San Bandagist GmbH für die Bereitstellung der Rollstühle!