Kenne deine Rechte

„Menschenrechte werden so gar nicht in Schutz genommen“


Das Weltgeschehen macht keinen Halt – auch nicht vor der griechischen Insel Lesbos. Medial scheint es um das Flüchtlingscamp Mavrovouni ruhig geworden zu sein, aber das Leben dort steht nicht völlig still. Hanna H. war im Sommer 2021 und von Februar bis März dieses Jahres als Freiwillige im Camp tätig und berichtet im KdR-Interview von ihren Eindrücken.

Kenne deine Rechte: Wie sieht dein Bild von der aktuellen Lage im Camp aus? Auch im Vergleich zum Sommer 2021.

Hanna: Zwischen August 2021 und März 2022 hat sich sehr viel verändert. Die Lebenssituation ist um einiges besser geworden. Es muss zum Beispiel keiner mehr in Zelten schlafen und fast keine Familien müssen sich die neu errichteten Container und Plastikhäuser teilen. Ich habe das Gefühl, das ist für alle etwas angenehmer, weil jede Person nun etwas mehr privaten Raum für sich selbst zur Verfügung hat. Große Unterschiede sieht man auch in der Infrastruktur. Es sind sehr viele Zäune gebaut worden, richtige Brücken und ein ganzes Abwasserkanalsystem. Eine griechische Organisation geht täglich durchs Camp und sammelt den Müll ein. Rein optisch hat sich vieles gebessert. Aber dennoch gibt es nach wie vor viele Probleme. Die meisten Menschen sind schon seit vielen Jahren dort und können nur warten. Sie müssen auf engsten Raum gemeinsam wohnen. Sie bekommen seit Jahren das gleiche Essen. Sie sind dem Wetter ausgesetzt. Auf Dauer würde dort glaube ich jeder durchdrehen.

Kenne deine Rechte: Es sind immer weniger Menschen dort. Wer ist noch im Camp?

Hanna: Sowohl Familien als auch alleinstehende Frauen und Männer leben noch im Camp. Zum Großteil sind es aber alleinstehende Männer, da sie die geringste Chance haben um von dort wegzukommen. Die meisten von ihnen waren schon vor dem Brand im Camp Moria auf der Insel. Eigentlich alle haben schon mehrere negative Asylbescheide. Damit sie aber wieder auf die Liste für einen Asylantrag kommen, müssen sie meines Wissens nach etwa 100 € pro Person bezahlen. Wenn dann eine Familie aus mehreren Personen besteht, ist das besonders schwierig. Die meisten haben kein Geld und arbeiten nicht auf der Insel, vor allem weil sie in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Es heißt also warten, Geld sammeln, und wieder neu auf die Liste setzen lassen. Es sind viele bürokratische Schritte zu überwinden. Dieser Vorgang passiert oft mehrere Male.

Kenne deine Rechte: Wie macht sich die Pandemie im Camp bemerkbar?

Hanna: Man muss überall Masken tragen, egal ob drinnen oder draußen. Im Winter wurde das besonders streng kontrolliert. Sonst sind überall Waschstationen installiert worden, wo man sich die Hände waschen kann. Frische Masken wurden auch dort ausgeteilt. Von den Fallzahlen oder Clustern habe ich aber nicht sehr viel mitbekommen. Wenn jemand positiv wird, gibt es für die Personen Quarantänezelte.

Kenne deine Rechte: Um bei der aktuellen Lage zu bleiben: Was waren die Reaktionen auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine?

Hanna: Wie sich die Flüchtenden auf Lesbos fühlen, kann ich nicht beurteilen. Ich war während des Kriegsausbruches dort. Alles war noch sehr neu, weshalb ich glaube, dass sich viele mit der Situation der Ukrainer:innen identifizieren konnten und Mitleid verspürten. Mittlerweile merkt man, dass die EU richtig viele Menschen aus der Ukraine aufnimmt. Zum Glück. Alle anderen aber etwa aus Ostasien und Afrika werden wie Dreck behandelt. Es herrscht keine Balance – vor allem in Griechenland selbst. Einerseits nimmt das Land ukrainische Flüchtende auf, andererseits stoßen sie täglich Menschen zurück. Illegale Push Backs passieren ständig.

Kenne deine Rechte: Schaffen es da noch Flüchtende ins Camp?

Hanna: Es kommen definitiv nicht mehr so viele wie noch vor einiger Zeit und Push Backs sind die Regel. Bist du einmal im Camp, sind die Chancen sehr hoch, dass du bleibst. Wirst du von Beamten zuvor entdeckt, wirst du zurückgeschickt. Die Flüchtenden versuchen mittlerweile strategisch vorzugehen und oft läuft das Prozedere gleich ab. Boote kommen abends an und die Flüchtenden lassen alles liegen und stehen, um sich zum Beispiel in den umliegenden Wäldern vor der Polizei zu verstecken. Natürlich fallen sie auf und den meisten werden eigentlich wie Verbrecher:innen Handschellen angelegt. Dann werden sie zu den Booten zurückgebracht und zurückgezogen. Als Organisation dürfen wir rechtlich gesehen nicht helfen. Das würde unter Menschenhandel fallen.

Kenne deine Rechte: Vermutest du angesichts der griechischen und europäischen Vorgehensweise das Ende des Camps?

Hanna: Man merkt schon sehr stark, dass im Camp eine gewisse Aufbruchsstimmung herrscht. Es sind nur mehr um die 2000 Menschen und im letzten Monat haben sehr viele einen positiven Bescheid bekommen. Ich bin mir nicht sicher, ob da die Absicht dahintersteckt, das Camp zu schließen. Gleichzeitig befinden sich Millionen Flüchtende in der Türkei. Soll man da eine „Festung Europa“ bauen? Das löst einfach nicht das Problem, sondern macht es maximal schlimmer. Auch jetzt mit der Ukraine rückt diese Frage wieder weiter in den Hintergrund.

Kenne deine Rechte: In den Medien wird die Fluchtsituation in Griechenland momentan wenig thematisiert. Wie beurteilst du die Berichterstattung?

Hanna: Ich glaube, dass die Medien sehr wenig berichten und dadurch viel vertuscht werden kann. Es scheint so, als ob es das Problem nicht mehr gibt. Vor allem über die Push Backs gehört informiert. Mehrere hundert Menschen werden wöchentlich auf brutalste Weise zurückgestoßen oder sterben bevor sie EU-Land betreten. Menschenrechte werden so gar nicht in Schutz genommen. Wir denken, wir seien schon so weit gekommen; wir seien nicht mehr rassistisch; wir hätten aus der Vergangenheit gelernt. Wenn man aber sieht, dass Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe oder Religion weiterhin benachteiligt werden, merkt man, dass wir rein gar nichts gelernt haben. Mit der Flüchtlingswelle aus der Ukraine wird das deutlich. Ich finde es wahnsinnig gut, dass die EU handelt und ganz Europa mithilft. Es ist irgendwo aber auch traurig, dass es bei anderen Menschen nicht so passiert.

Kenne deine Rechte: Eine schwierige Frage zum Schluss: Was wünscht du dir für die Zukunft des Camps und die europäische Fluchtsituation insgesamt?

Hanna: Das ist wirklich eine sehr schwierige Frage. Zum einen würde ich mir wünschen, dass so ein Camp nicht mehr existiert. Auch wenn die Bedingungen nun viel besser und nicht mehr vergleichbar mit den katastrophalen Zuständen auf Moria sind. Die Situation ist trotzdem nicht gut und darf nicht als neue Normalität angesehen werden. Mein Wunsch ist auch, dass jede Person das Recht hat, nach Europa zu kommen – alle Personen, die täglich zurückgestoßen werden. Ich weiß, dass die Aufnahme von allen Flüchtenden weitere Probleme mit sich bringt, aber die EU muss handeln. Richtig handeln.

Als Freiwillige hat Hanna H. einen Beitrag geleistet. Viele tun es ihr gleich und das ist essenziell. Veränderung muss aber im großen politischen Rahmen verankert und nicht allein von den zivilen Organisationen getragen werden. Die Frage nach dem Wie ist eine sehr vielschichtige – eine Festung Europa kann aber ganz bestimmt nicht die Lösung sein. Schließlich muss sich für und nicht gegen die Menschenrechte entschieden werden.

Bild Header: Hanna H.
Zwei Bewerbungsbilder auf Titelseite: Organisation Eurorelief


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