
Verwundungen
Wir alle scheinen sensibler zu werden. Ist das ein Problem bestimmter politischer Gruppen? Oder ein allgemeines, das die gesamte Gesellschaft betrifft? Worin liegt der Ursprung dieser Sensibilität? Wie können wir sie überwinden? Eine Spurensuche und ein Plädoyer für ein überlegtes Sprechen.
Die Coronapandemie bricht in eine Welt, die in mehrfacher Weise verwundbar geworden ist. Der Soziologe Ulrich Beck hat hierfür bereits vor 35 Jahren den Begriff ‚Risikogesellschaft‘ geprägt. Modernisierung bedeutet auch eine Multiplizierung von Risiken. Atomwaffen machen die selbstverschuldete Totalzerstörung plantarer Dimension zur alltäglichen Potentialität. Demgegenüber ist der Klimawandel nicht eine Frage des Moments (wird der große rote Knopf gedrückt oder nicht), sondern epochal. Graduell bewegen wir uns auf die Katastrophe hin. Slouching towards Bethlehem.
Technologischer Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum haben einen Zustand herbeigeführt, in dem sowohl Sicherheit wie auch Unsicherheit ihr größtes historisches Ausmaß erreicht haben. Nie haben wir so lang gelebt wie heute, nie waren wir so wohlhabend, aber gleichzeitig: nie waren wir so nahe an der Zerstörung, nie waren wir als Menschheit existentiell derartig bedroht. Dazu kommt, dass unser politisches und gesellschaftliches System unnötigerweise eine universelle Prekarisierung vorantreibt, die Unsicherheiten weiter vervielfältigt. ‚Flexible‘, sprich leicht zu kündigende Arbeitsverhältnisse, absurde Miet- und Immobilienpreise, steigende Ungleichheit und Stagnation in der Lohnentwicklung ist die ökonomische Seite einer gesellschaftlichen Entwicklung, die Vereinzelung, Vereinsamung und psychische sowie intellektuelle Erschöpfung produziert. Soziale und ökonomische Entwicklungen bedingen und verstärken einander. Noch nie haben so viele Menschen alleine gelebt wie heute. Das heißt nicht nur, dass in vielen Fällen persönliche Unterstützungsnetzwerke wegfallen (die historisch gesehen eine Konstante waren), sondern bedeutet auch einen Verfall öffentlichen Lebens. Einsame Menschen solidarisieren sich nicht oder zumindest nicht ausreichend, um den angesprochenen ökonomischen Entwicklungen gegensteuern zu können.
Auf sich selbst zurückgeworfen werden die Menschen politisch konform oder entpolitisieren sich gar, unterwerfen sich dem Regime des Narzissmus, in dem nur die eigenen Befindlichkeiten zählen und das große Außen, diese ewige Faszination, verkümmert und zu verschwinden droht. Monadisch will man sich abkapseln von einer Welt ohne stabile spirituelle, religiöse, nationalistische, klassenbasierte oder kulturelle Zugehörigkeit, eine Welt geprägt von Klimawandel, atomarer Gefahr, Terrorismus, Pandemien, ökonomischer Ungerechtigkeit und Unsicherheit, politischer Korruption und genereller, aber vor allem auch intellektueller Stagnation. Rückzug. Biedermeier.
So wird der Lockdown zum Symbol eines Zeitalters, ungeachtet seiner praktischen Notwendigkeit. Der Mensch will sich – angesichts der Risiken, die ihm die Welt auf persönlicher, politischer, gesellschaftlicher Ebene bietet – einhöhlen. Dem Sprechen, wenn man an Habermas denkt, der Inbegriff moderner Rationalität und persönlicher sowie politischer Ethik, wird Schweigen entgegengesetzt. Oder vielleicht eher: ein Sprechen, das so infantil, ignorant, irrational und egoistisch geworden ist, das ein tatsächliches Schweigen ihm vorzuziehen wäre. Dass Kunst, die einen autonomen Raum für freies, öffentliches, komplexes Sprechen bietet, heute derart an Stellung verloren hat, ist bezeichnend für eine Kultur, in der sich niemand mehr etwas Aufrichtiges und Intelligentes zu sagen hat. Es ist fast ein Klischee zu sagen, man spreche heute aneinander vorbei. Aber wäre es wirklich besser, wenn das, was gesagt wird, beim Anderen ankommt?
Das Verklingen im Raum scheint das adäquate Schicksal des meisten heutigen Sprechens zu sein. Die Überproduktion von Informationen, Missinformationen und Meinungen geht einher mit einem Mangel an Bedeutung und Werten. Der im besonderen Maß verwundbar gewordene Mensch schlägt um sich. Weil sich aber die Gefahren, die Risiken, die Verwundungen abstrakter ausmachen als einst, reagiert er abstrakter, schlägt um sich nicht mit Fäusten, sondern mit Worten, die weder Gewalt noch ihr Gegenteil sind. In unseren an körperlicher Gewalt armen Gesellschaften lärmt allerorts impotentes Schreien und Schimpfen. Darauf scheint die Verweigerung, das nicht-Sprechen, eine angebrachte Antwort.
So leicht können und sollen wir uns es jedoch nicht machen. Denn im Sprechen entsteht das Miteinander. Das Miteinander, auf das wir abzielen sollen, darf aber auf keiner naiven Harmonievorstellung fußen. Das Miteinander, das ich meine, übergeht keine Differenzen, lässt Antagonismen und Konflikte zu, fördert eine Diskussionskultur, die Widerspruch und Streit als zivilisatorische Errungenschaften erscheinen lässt. So begegnen wir der Atrophie, die das Denken, die Sprache, die Kultur erfasst hat, und begründen eine Basis, auf der wir Handlungsstrategien aufbauen können, um der universalisierten Prekarisierung und den Modernisierungsrisiken etwas entgegenzusetzen.
Somit ist gezeigt, dass Sensibilität, die heute überall festgestellt wird, keine Charakterschwäche, sondern eine Folge gesellschaftlicher Verwundungen ist. Vereinzelt und verunsichert werden wir sensibel. Wenn wir aber das Denken, das Sprechen stärken, können wir wieder zueinander finden und einen produktiveren Diskurs hervorbringen. Das wäre der erste Schritt hin zu einer Gesellschaft, die ihren Problemen nicht bloß ausweicht, sondern sich ihnen stellt und so Risiken, Unsicherheiten und Ängste abbaut. Im Anfang war das Wort…