Sterbehilfe: Mord oder Achtung der Menschenwürde?
Das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende ist im Jahr 2021 wohl in einen zentralen Fokus gerückt. Mit dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 11.12.2020[1] war das Thema Sterbehilfe in den Medien ebenso präsent wie die Themen Corona, Lockdown und Homeschooling. Sterbehilfe war in Österreich seit jeher gesetzlich verboten. Im Vergleich dazu war die Beihilfe zum Selbstmord, also der assistierte Suizid, und die passive Sterbehilfe, also das sterben lassen, in Ländern wie Belgien, Holland und der Schweiz erlaubt. Das Leben eines anderen Menschen zu beenden, entbehrte sich in Österreich jeder rechtlichen Grundlage und ist gemeinhin bekannt als Mord bzw. Tötung auf Verlangen. Nun kam es im Jahr 2020 zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs nach dem Antrag einiger schwerkranker Menschen in Österreich. Diese forderten das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende zu gewährleisten und somit die Sterbehilfe zu legalisieren. Doch was hat sich nun über ein Jahr später in diesem brisanten Bereich geändert? Was steckt hinter diesem Thema?
La vie est belle
Der Verlust eines geliebten Menschen ist nie einfach, unabhängig von der Todesursache. Die Europäische Menschenrechtskonvention, das Staatsgrundgesetz, die Grundrechtecharta, das Bundesverfassungsgesetz und einige weitere Gesetze legen die Grund- und Menschenrechte fest, die allen Menschen in Österreich zustehen – vom Tag der Geburt an bis zum Lebensende. Als Beispiele wäre hier das Recht auf Bildung (nach beenden der Schulpflicht) zu nennen, mit welchen die Fragen verknüpft sind, ob man arbeiten will oder lieber doch studieren oder eine Lehre absolvieren möchte? Ein weiteres ganz gängiges Beispiel wäre das Recht auf Ausübung der eigenen Religion und Sexualität. Zentral ist auch noch das Recht auf freie Meinungsäußerung.
In nahezu jedem Bereich unseres Lebens dürfen wir frei entscheiden, was wir machen möchten. Doch nun ist die Frage, wieso darf man nicht selbst bestimmen, wann man sein Leben beendet? Warum wird uns in Österreich diese Entscheidung abgenommen? Selbstmord ist nach wie vor ein Tabuthema; man darf nicht darüber reden. Aber was ist, wenn man nicht mehr selbst in der Lage ist, sein Leben selbst zu beenden? Was wenn man Hilfe braucht, die Hilfe von Ärzten zum Beispiel? Darf der Arzt mir denn helfen?
Das Gesetz räumt uns Rechte ein unabhängig von der Ausbildung, die wir haben, oder davon, was wir in unserem Leben gerade machen. Das Recht auf Achtung der Menschenwürde sei hier vorrangig genannt: Menschenwürde ist ein Wertgrundsatz. Kein Mensch ist ein bloßes Mittel, um einen Zweck zu erfüllen, wie bspw. Arbeit zu verrichten, zu studieren oder Steuern zu zahlen. Menschen sind viel mehr als das was sie tun. Jeder Mensch hat unabhängig von Herkunft, Rasse, Religion oder Sexualität Rechte.
Leben und leben lassen.
In Bezug auf das Recht auf Leben und das Verbot der Folter gilt folgendes: Jeder Mensch hat das Recht zu leben; das Recht ohne Angst vor Folter zu leben. Es ist verboten, einen anderen Menschen unmenschlich und unwürdig zu behandeln. Solange ich niemand anderem Schaden zufüge, kann ich so leben wie ich will. Ich kann zu Mittag eine ganze Packung Chips essen, wenn ich diese zuvor gekauft habe. Aber ich darf nichts stehlen, nur weil ich es nicht bezahlen will. Solange ich nicht einen anderen Menschen in seinem Leben einschränke, kann mir niemand etwas vorschreiben. Ich muss mit meinen Entscheidungen am Ende vom Tag glücklich sein.
Dem Staat kommt die Pflicht zu, jeden Menschen zu schützen und die Möglichkeiten zu geben, sein Leben frei und selbstbestimmt zu gestalten. Diese Pflicht ist vor allem in Österreich sehr umfassend und beginnt bereits vor der Geburt. Hiermit ist der Schwangerschaftsabbruch nach Überschreiten einer gewissen Schwangerschaftswoche gemäß §§ 96 – 98 StGB gemeint. Doch vor dem Hintergrund des Schutzes des Lebens und dem Verbot der Folter stellt sich mir die Frage, ob es nicht auch egoistisch und sogar unmenschlich ist, einem Menschen das Recht zu sterben zu entziehen und ihn dazu zu zwingen, zu leben? Niemand verliert gerne jemanden. Der Tod gehört aber dazu. Ist es nun rechtens, jemanden zum Leben zu zwingen, wenn diese Person sterben WILL? Ist es nicht egoistisch, jemanden zu zwingen, dass zu tun, was ich möchte, damit es mir nicht schlecht geht? Nehmen wir dann nicht in Kauf, dass der Sterbewillige Schmerzen hat und leidet? Die Medizin hat unfassbare Möglichkeiten geschaffen, aber wir können nicht in einen anderen Menschen hineinschauen.
Das Verbot der Folter verbietet es, eine Person „unmenschlichem Verhalten und körperlichen oder psychischen Qualen“ auszusetzen. „Unmenschliches Verhalten“ wird definiert als das absichtliche schwere Herbeiführen von körperlichem oder psychischem Leiden. Was nun, wenn eine Behandlung, die dazu führt, dass ich keinen geliebten Menschen verliere, diesem Menschen aber einem solchen Leiden aussetzt. Ich verwehre somit dem geliebten Menschen, sein Recht zu sterben. Was wenn etwas, das wir als richtig ansehen, für die andere Person eine Qual ist? Gibt es denn eine Pflicht zum Leben?[2] Damit es uns nicht schlecht geht sollen andere leben und leiden?
Gibt es eine Änderung?
Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs hat einige Steine ins Rollen gebracht. Die Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) und die Mitwirkung am Selbstmord (§ 78 StGB) sind seit Langem als Straftatbestände im österreichischen Strafgesetzbuch verankert. Und nun sollen diese fallen? Nein! So einfach ist die Erkenntnis nicht auszulegen. Es wurden Verstöße gegen einige Grundrechte angeführt, die zu einer ausführlichen Gesetzesprüfung führten. Genannt wurden hier die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK, ART. 10 GRC), das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK, Art. 21 GRC) und in gewissen Bereichen auch das Recht auf Selbstbestimmung (Art. 8 EMRK). Und letztlich umfasst das Recht auf freie Selbstbestimmung die freie Gestaltung des Lebens ebenso wie die Gestaltung des Todes. Das Ergebnis am Ende war eindeutig: Jemanden gegen dessen Willen unter Zuführung von Qualen und Leid am Leben zu halten, entspricht nicht den menschenrechtlichen Grundlagen.[3]
Nun sollte es eine Änderung geben. Diese wurde am 16.12.2022 beschlossen: Durch die Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes soll die Selbstbestimmung in einem genau definierten Rahmen möglich sein. Nun kann natürlich nicht jeder einfach von diesem Gesetz Gebrauch machen. Derzeit ist zu sagen, dass ich eine Sterbeverfügung errichten kann, wenn ich unheilbar krank bin und an meiner Krankheit sterben werde, oder an einer schweren, dauerhaften Krankheit mit anhaltenden Symptomen leide, die mich in meiner freien Lebensführung stark beeinträchtigt. Wenn dies vorliegt, kann sie nach einer mehrfachen Aufklärung und einer darauffolgenden zwei bis zwölf wöchigen Wartefrist errichtet werden. Mit diesem Dokument, vergleichbar wie ein Testament, habe ich etwas geregelt am Lebensende, hier meinen Tod. Beim Testament wäre das der Umgang mit meinem Vermögen. Wenn eine Sterbeverfügung errichtet wurde, kann ein Präparat ausgegeben werden, dass bei korrekter Einnahme zum Tode führt. Der Grund für dieses Gesetz ist unter anderem das vielen Menschen eine andere Möglichkeit der Selbsttötung aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr möglich ist. Aber auch hier gilt, dass ich nicht gezwungen oder verleitet werden darf, meinem Leben ein Ende zu setzen. Auch muss ich volljährig und geschäftsfähig sein, also nicht geistig stark beeinträchtig, um die Sterbeverfügung zu errichten.
Verboten ist es nach wie vor, jemand anderen gegen dessen Willen zu töten. Ich darf auch niemanden dazu beeinflussen oder dazu verleiten, sich selbst zu töten. Dies ist nach wie vor verboten und wird sehr streng mit langen Freiheitsstrafen geahndet. Ich muss mich also selbst, frei und unbeeinflusst dazu entschließen, mein Leben zu beenden und nicht weil mir das jemand einredet. Aber ich habe nun das Recht, mir Hilfe suchen, wenn ich mich selbst töten möchte und das nicht alleine schaffe. Die Inanspruchnahme eines Dritten (der mich als Sterbewilligen nicht beeinflusst!) ist straffrei möglich, sofern diese Person das freiwillig tut. Wichtig ist nur, dass es keinen Zwang geben darf, es soll der Willen des Sterbenden im Zentrum stehen. Was will ich und wann will ich es. Ich darf nicht genötigt werden, mich selbst zu töten, oder unter irgendeinem Druck stehen. Erlaubt ist es, jemanden beim Selbstmord zu helfen, sofern ich ihn nicht dazu zwinge oder dazu verleite. Dies war zuvor lange verboten. Jedoch ist es nach wie vor verboten, jemanden zu töten, wenn mich dieser darum bittet. Wichtig ist: Ich darf nun um Hilfe bitten, aber ich kann niemanden zwingen, mir zu helfen, mich selbst zu töten.
Was ist das Ergebnis?
Die Auswirkungen des Sterbeverfügungsgesetztes werden sich erst zeigen, wenn das Gesetz in Kraft getreten ist.
Das Ziel hinter diesem Gesetz ist jedenfalls ganz klar die Ausdehnung der Selbstbestimmung am Lebensende. Jeden Moment unseres Lebens können wir selbst bestimmen. Dies jedoch nur im Rahmen des Erlaubten und ohne anderen Schaden zu bereiten. Apfel oder Banane als Frühstück? Pullover oder Jacke? Studium oder Lehre? Heiraten oder Single bleiben? Kinder oder Haustiere? Und nun auch: leben oder sterben. Es gilt im gesetzlichen Rahmen, in dem wir uns hier bewegen, äußerste Vorsicht und Strenge einzuhalten. Wir dürfen keinem anderen Schaden zufügen; wir können nicht einfach in ein geschlossenes Geschäft einbrechen oder jemanden schlagen. Die Ausweitung der menschenrechtlichen Bestimmungen im Sinne des Sterbeverfügungsgesetzes ist ein großer Schritt. Nun gilt es abzuwarten und zu schauen, wie sich die Situation entwickelt. Wie stark wird von dem gestern beschlossenen neuen Gesetz Gebrauch gemacht werden? Wird es einen Anstieg der Fälle von Selbsttötung geben? Neben der Pandemie ist dieses neue Gesetz und die damit verbundenen Änderungen wohl eines der Topthemen des Jahres 2021, das uns wohl auch noch in Zukunft beschäftigen wird.
Quellen
[1] VfGH, 11.12.2020, G 139/2019
[2] Halmich/Klein, Sterbehilfe/Suizidbeihilfe in Österreich (2021).
[3] Presseaussendung des VfGH:https://www.vfgh.gv.at/medien/Toetung_auf_Verlangen_Mithilfe_am_Suizid.ph