
„Jeder Tag ist Tag der Menschenrechte“
Etwa 70 bis 100 Menschen sind am 10. Dezember 2021 noch vor der Morgendämmerung aus den Federn gekrochen, um am Grazer Freiheitsplatz bei eisigen Temperaturen den Tag der Menschenrechte zu begrüßen und ein Zeichen zu setzen. Eine Reportage.
Donnerstag, 9. Dezember 2021, 18 Uhr. Mehrere Zentimeter frischer Schnee bedecken die Straßen und Häuser in Graz. Die Sonne ist bereits untergegangen, das Thermometer zeigt minus drei Grad. In der Innenstadt sind kaum mehr Menschen unterwegs, die meisten befinden sich mittlerweile in geheizten Innenräumen.
Vor dem Grazer Schauspielhaus zieht eine warm gekleidete junge Frau einen kleinen Wagen hinter sich her. Auf diesem sind Teile aufgeladen, die sich zu einer Matte zusammenstecken lassen. „I’ve got two more leggings in my bag”, meint sie. Ihr großer Rucksack und der Wagen legen die Vermutung nahe, dass sie auf Reisen ist. Aber nur wenige Meter danach, am Freiheitsplatz, macht sie Halt. Auch einige andere Menschen haben sich hier eingefunden. In der Mitte des Platzes sind drei Kerzen platziert, am oberen Eck ein Zelt. Gerade wird der Asphalt vom Schnee befreit. Begleitet vom Kratzen der Schaufeln baut eine Gruppe weitere Zelte auf, andere stehen beisammen, reden, trinken Tee oder Bier oder streifen sich noch einen Pullover über. Viele von ihnen werden heute hier übernachten. Aber nicht alle: „Dann sehen wir uns morgen um 6:30 Uhr!“, verabschiedet sich eine Frau.
Ein kalter Morgen nach einer kalten Nacht
Was die Frau so früh am Morgen schon vorhat und warum in einer so eisigen Nacht Menschen freiwillig in Zelten schlafen, zeigt der nächste Tag. Schon um halb sieben, noch vor der Morgendämmerung befinden sich etwa 70 bis 100 Personen am Freiheitsplatz. Auch jene, die dort genächtigt haben, sind aus ihren Zelten gekrochen. Sie alle haben sich zusammengefunden, um den 10. Dezember, den Tag der Menschenrechte, zu begrüßen.
Während der Himmel noch dunkel ist, sind auf dem Freiheitsplatz viele kleine Lichtlein zu sehen. Teelichter wurden in regelmäßigen Abständen angeordnet, neben fast jedem steht eine Person. Der dazwischenliegende Abstand ist jedoch nicht nur auf die Pandemie zurückzuführen, sondern hinter der Formation stecken tiefere Überlegungen, wie eine der Organisator*innen verrät: „Jedes Teelicht ist das Zentrum eines Sechsecks aus Kerzen. Gleichzeitig ist jedes Licht aber auch Teil eines weiteren Sechsecks mit einem anderen Zentrum.“ Das solle zeigen, dass man miteinander steht, aber auch für sich selbst, dass man also zusammenhalten, aber auch seine eigene Meinung kundtun soll. Die Aufstellung trägt den Namen „Feldstellen – Das Feld der Vielen“.

Blick zu den Flüchtenden
Organisiert wurde die Kundgebung von der Gruppe We4Moria, die sich laut eigener Beschreibung „für eine menschenwürdige und menschenrechtskonforme Asylpolitik“ einsetzt. Seit Anfang des Jahres schlagen die Aktivist*innen immer wieder auf Grazer Plätzen ihre Zelte auf, um sich mit Flüchtenden zu solidarisieren, auf Missstände im Asylwesen aufmerksam zu machen und Forderungen zu stellen. Heuer werden sie für ihr dauerhaftes Engagement den Menschenrechtspreis der Stadt Graz verliehen bekommen.
Nach anfänglichen Begrüßungsworten richten alle Anwesenden ihren Blick Richtung Nord-Osten, dorthin, wo sich tausende Kilometer entfernt die polnisch-belarussische Grenze und somit viele Flüchtende befinden. Begleitet von Musik wenden sich die Menschen kurz darauf um und blicken nach Süd-Osten, nach Moria, das häufig als Symbol für die Not der Flüchtenden gesehen wird.
Nach einigen Minuten richten sich die Blicke wieder nach vorne, der Menschenrechtsexperte Wolfgang Benedek ist am Wort. Er spricht davon, wie man vor über 70 Jahren die allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet hat, darüber wie die Europäische Flüchtlingskonvention zu einer globalen Menschenrechtskonvention wurde und wie trotzdem auch heute noch immer wieder versucht wird, sie auszusetzen. Als Beispiel dafür hebt er die aktuelle Lage an der belarussisch-polnischen Grenze hervor, wo Flüchtende zwischen Grenzen hin- und hergeschoben werden. „Dabei ist das Recht auf Asyl ein Menschenrecht.“
Außerdem spricht er den an dem Tag erschienen Menschenrechtsbericht der Stadt Graz an, in dem heuer das Recht auf angemessenen Wohnraum im Mittelpunkt steht. Der Bericht nimmt damit Bezug auf Artikel 25 der Menschenrechte, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard.
Der nächste Redebeitrag kommt von drei Mitgliedern der Farsi-Bibliothek Graz. Sie berichten über die aktuelle Lage in Afghanistan, wo Menschenrechte mittlerweile auf alltäglicher Basis verletzt werden. Flüchtende von dort werden in Österreich trotzdem nur sehr zurückhaltend aufgenommen. Auch Doro Blancke, die sich als Aktivistin oft in Lesbos aufhält, spricht von untragbaren Zuständen im Asylwesen und darüber, dass diese verbessert werden müssten. Denn: „Jeder Tag ist Tag der Menschenrechte.“

Von der Dunkelheit in die Helligkeit
Als würden sie ihre Aussage unterstreichen wollen, gehen während Doro Blancke spricht die Straßenlaternen aus. Es ist 7:17 Uhr. Der Himmel ist mittlerweile heller geworden, die Hände und Füße der meisten Anwesenden kälter. Die ersten Personen packen ihre Thermoskannen aus, eine junge Frau holt eine Decke. Es ist kalt, aber, wie eine der Organisator*innen sagt: „Das alles ist nichts gegenüber dem, was Flüchtende aushalten müssen, wenn sie im Winter in den Wäldern zwischen Belarus und Polen festsitzen.“
Der nächste Redner, der aus Syrien stammende Omar Khir Alanam, kam 2014 als Flüchtling nach Österreich. Heute ist er hier Autor, seine Bücher verkaufen sich gut. Er kritisiert, dass Menschen wie ihm oft gar nicht erst die Chance gegeben wird, sich zu integrieren. „Das Risiko zu sagen aus welchem Land du abstammst; Denn sofort halten Gesprächspartner Abstand; All das kann keiner von uns jemals verstehen; Aber alldas hat mein Bruder Omar erlebt“, ringen die Worte seines Textes „Risiko“ über den sonst stillen Platz.
Doch was kann man tun, wie verhält man sich als Mensch, der solidarisch sein möchte? „Aktiv bleiben“, sagt We4Moria. Sie appellieren seit Jahren an die Politik, ihre Asylpolitik aufzuwerten, auch heute bringen sie Forderungen vor. Die Kundgebung und die vielen Menschen, die dazu aufgetaucht sind, hätten jedoch bereits ein wichtiges Zeichen der Solidarität und des Zusammenhalts gesetzt.
Etwas durchgefroren aber den Blicken nach zu urteilen zufrieden verlassen die Menschen gegen 7:45 Uhr nach und nach den Freiheitsplatz. Die meisten von ihnen werden sich nun ins Warme begeben, in die Arbeit oder Uni, und ihrem normalen Alltag nachgehen. Eine Realität, von der die Flüchtenden in Griechenland oder Belarus nur träumen können. Die Kundgebung ist vorbei, der Tag der Menschenrechte aber nicht. Heute nicht, morgen nicht und auch an den anderen 363 Tagen im Jahr nicht. Denn: „Jeder Tag ist Tag der Menschenrechte.“
Titelbild: Sophie Aster
Fotos im Text: Wanda Tiefenbacher