Kenne deine Rechte

Srebrenica – ein Zeitzeuge berichtet


Nedžad Avdić war 17 als er dem Tod in die Augen blickte. Ein Interview mit einem Überlebenden des Genozids in Srebrenica vor 26 Jahren.

Kenne deine Rechte (KdR): Vielen Dank für dieses Interview. Könnten Sie sich kurz für uns vorstellen?

Nedžad: Danke für Ihr Interesse. Mein Name ist Nedžad Avdić. Ich bin Überlebender des Genozids in Srebrenica. Ich war 17 Jahre alt als ich zum Abschuss geführt wurde – genau so alt wie Sie jetzt.

KdR: Wieso haben Sie sich dazu entschieden, über den Genozid zu sprechen, wo es doch so viele andere nicht tun?

Nedžad: Sehr viele schweigen über die Ereignisse in Srebrenica, so auch einer meiner sehr guten Freunde. Die einzige Ausnahme war vor Gericht in Den Haag. Ich habe selbst 20 Jahre lang nicht darüber gesprochen. Ich habe die Schule und die Universität abgeschlossen, ohne darüber zu sprechen. Einmal erkannte sogar ein Kollege meine Stimme, obwohl ich weinte und eigentlich ein anonymer Zeuge vor Gericht war. Er fragte mich, ob ich aus Srebrenica war. Sogar ihm gegenüber habe ich geleugnet, dass ich aus Srebrenica war. Anfangs, als wir in der Schule Sportunterricht hatten, ging ich als erster in die Garderobe und als letzter wieder hinaus, damit meine Freunde die Wunden nicht sahen. Deswegen habe ich 20 Jahre nicht darüber gesprochen, außer eben in Den Haag. Dort wurde ich als geschützter, anonymer Zeuge geführt. Nachdem ich nach Srebrenica zurückkehrte, wurde ich quasi dazu gezwungen, über die schrecklichen Ereignisse zu sprechen. Das liegt vor allem daran, dass der Genozid weiterhin geleugnet wird und nach wie vor gegen uns Muslime gehetzt wird. Von Tag zu Tag bin ich aktiver und das ist eine Art der Therapie für mich. Wenn man sich entscheidet, offen über das, was man erlebt hat, zu sprechen, ist es eine psychische Erleichterung.

KdR: Könnten Sie für die Menschen in Österreich kurz zusammenfassen, was damals in Srebrenica geschehen ist?

Nedžad: Srebrenica ist ein Ort in Bosnien – ungefähr neun Stunden Fahrtzeit von Österreich entfernt – und liegt somit im Herzen Europas. Was mir dort im Juli 1995 wiederfuhr, kann auch heute noch jedem passieren. Es wurde ein Genozid verübt. Männer und Jungen wurden im sogenannten „Bosnienkrieg“ von der Armee der Republika Srpska ohne Grund ermordet. Als Jugendlicher, der nach Srebrenica kam, dachte ich, dass mir nichts passieren könnte. Ich habe ja schließlich niemandem etwas getan. Ich dachte, dass die Szenen der Konzentrationslager und der Massenmorde mit dem Zweiten Weltkrieg vorbei waren; aber vor 26 Jahren musste ich das alles als 17-Jähriger selbst miterleben. Eigentlich waren das solche Szenen, wie ich sie bis dahin nur aus Filmen kannte, aber jetzt wurden wir damit auch in der Realität konfrontiert. Alles war vorbereitet: die Massengräber und die Schulen als KZ. In nur drei Tagen, vom 13. bis -16. Juli 1995, wurden über 8000 muslimische Menschen unter dem Deckmantel der „echnischen Säuberung“ grundlos ermordet.

KdR: Wie war die Situation in Srebrenica?

Nedžad: Ich floh mit meinem Vater, meiner Mutter und meinen jüngeren Schwestern im Frühling 1993 nach Srebrenica, als wir von Vlasenica vertrieben wurden, weil unser Dorf von den serbischen Kräften niedergebrannt wurde. In dieser Zeit war Srebrenica bereits aufgrund der vielen ethnischen Reibungen zwischen Serben und Bosniaken eine UN-Schutzzone. Wir suchten in der Stadt Schutz, weil die Blauhelme schon dort waren. Dort waren auch bereits viele Geflüchtete. Trotzdem wurde Srebrenica ständig bombardiert. Wir wohnten in Garagen und Schulen und hatten tagelang kein Essen. Ich begann in Srebrenica auch mit der ersten Klasse des Gymnasiums. Am Anfang gab es keine Schulen, aber nachdem die UNO gekommen war, wurde die Lage stabiler und die Schule konnte wieder beginnen. Ich musste jedoch mit zugenähten Schuhen in die Schule gehen – allen Kindern erging es so. Wir hatten keine Bücher, sondern nur UNICEF Hefte, die uns von der humanitären Hilfsorganisation bereitgestellt wurden. Aber es dauerte nicht lange bis die serbische Offensive begann und die UNO-Soldaten ihre Stellungen verließen. Ich möchte Ihnen aber noch kurz etwas zu den Soldaten sagen. Als Jugendlicher verbrachte ich viele Tage mit den Soldaten und wir haben über Fußball gesprochen. Damals war Ajax Europameister. Ab und zu gaben sie uns ihren Ball, damit wir spielen konnten. Doch eigentlich warteten wir darauf, dass sie uns etwas zum Essen geben würden.

KdR: Wie sind Sie aus Srebrenica entkommen?

Nedžad: Da wir von der serbischen Armee quasi den Tschetniks [serbisch-nationalistischen Guerillakämpfern] überlassen wurden, flohen wir in den Wald. Meine Mutter und meine drei Schwestern gingen nach Potocari zur UN-Basis. Mein Vater und ich flohen über den Wald nach Norden in den Ort Tuzla. Nur kurze Zeit später habe ich meinen Vater verloren. Ich blieb alleine in der großen Masse. Ich kannte niemanden.

KdR: Wie war es, als Sie gefangen genommen wurden?

Nedžad: Ich erinnere mich daran, dass uns die serbischen Soldaten, als die Kolonne getrennt wurde, zuriefen, dass sie uns töten würden, wenn wir uns nicht ergeben. Aber dann versprachen sie uns auch, dass sie alle Bestimmungen der Genfer Konvention eingehalten würden. Ich war damals ein Kind vom Dorf; ich hörte das erste Mal etwas über Konventionen. Dann wurde uns befohlen, uns hinzulegen und Parolen wie ,,Es lebe der König, es lebe Serbien“ zu rufen. Später wurden wir in Lastwägen nach Potocari zurückgebracht und am Tag darauf brachte man uns ins Unbekannte. Da sah ich, wie Gleichaltrige versuchten Fahrrad zu fahren und sofort getötet wurden. In dem serbischen Dorf Petkovci, in der Nähe von Zvornik, wurden wir in einer Schule untergebracht. Mit dem Anbruch der Dunkelheit begannen die Soldaten zu töten. Ich wurde gegen Mitternacht aus der Klasse rausgebracht und musste fast alles, was ich anhatte, ausziehen. Wir wurden in einer Reihe aus der Schule gebracht und wieder in die Lastwägen gesteckt. Wir wurden zu einem Staudamm gebracht. Sie sagten, wir sollten uns einen Platz suchen und uns hinlegen. Ich war so unter Schock, dass ich nicht mehr weiß, wann ich angeschossen wurde. Ich bekam drei Kugeln in die rechte Seite des Bauchs und in den rechten Arm. Ich wollte so schnell wie möglich sterben, aber ich hatte keinen Mut, den Soldaten auf mich aufmerksam zu machen, damit er mich tötete. Als die Soldaten weg waren, bemerkte ich, dass noch ein anderer Junge am Leben war. Ich hatte Angst, weil nur Tote um mich waren. Ich kroch über die Leichen, um ihn zu retten. Mit einem Stein habe ich das Seil des anderen Jungen durchgeschnitten. Von einem Kreuz haben wir ein Hemd runtergenommen und unsere Wunden damit abgebunden. Wir schliefen auf serbischen Friedhöfen und in Wäldern. Irgendwann erreichten wir zufällig ein Dorf, in dem wir aus dem Wald einen Mann und eine Frau über die Verbrechen in Srebrenica reden hörten. Die Frau sagte: ,,Allah wird ihnen helfen.“ Als wir näher zu ihnen kamen, bemerkten wir an ihrer Kleidung, dass sie „unsere“ waren. Sie sahen uns und flohen vor Angst, weil wir voller Blut, Erde und Gras waren. Im Dorf angekommen konnte ich mich nicht mehr bewegen, aber die Tage vorher kroch ich um mein Leben. Mein Vater, meine Onkel und sehr viele meiner Cousins wurden getötet.

KdR: Wie lange waren Sie insgesamt unterwegs?

Nedžad: Nach vier Tagen und vier Nächten erreichten wir das befreite Territorium unter der Kontrolle der bosnischen Armee.

KdR: Was können wir heute aus den grauenhaften Ereignissen in Srebrenica lernen?

Nedžad: Als jemand der den Genozid überlebt hat, sehe ich es als meine Aufgabe, darüber zu sprechen, vor allem weil er bis heute noch so oft geleugnet wird. Ich schicke die Nachricht an alle Jugendlichen weltweit, ihre Stimme zu erheben, denn auch ihnen kann sonst ein „Srebrenica“ passieren.

KdR: Was können wir in Österreich machen, um einen Beitrag zu leisten?

Nedžad: Die Jugendlichen in Österreich sollen an die unschuldig Getöteten erinnern, darüber lernen und sprechen. Da es mittlerweile so viele Menschen gibt, die wegen Völkermord verurteilt wurden, ist es wichtig, alles Mögliche gegen das Leugnen des Genozids zu tun. So sendet ihr die Nachricht an alle Verbrecher, ihre Unterstützer aber auch an zukünftige Verbrecher, dass es nicht in Ordnung war und ihr es nie wieder zulassen werdet, dass so etwas passieren kann.

KdR: Vielen Dank für das Gespräch.


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