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GRAZ 2040: Von der Vision zur Realität


Eine Streuobstwiese am Jakominiplatz? Eine autofreie Innenstadt, in der leerstehende Tiefgaragen zu Party- und Proberäumen umfunktioniert werden? Eine Zukunft in der „Vollzeit“ 30 Stunden arbeiten heißt? Vielleicht sogar eine CO2 Steuer, durch die eine Emissionsminderung bei Treibhausgasen erreicht und so dem Klimawandel entgegengewirkt werden kann? Mit diesen und vielen weiteren Fragen hat sich die Grazer Theater- und Kulturinitiative InterACT im Rahmen des Projekts „Young People Acting“ auseinandergesetzt. Die Premiere der unterhaltsamen und zum Nachdenken anregenden Szenencollage „GRAZ 2040: Wagen wir den Blick“ findet diesen Samstag, dem 3. Juli, im Kristallwerk in Graz statt.

Die SDGs im Zentrum

Ausgangspunkt der theatralischen Performance sind die 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO, oder auf Englisch die Sustainable Development Goals (SDGs). Die weltweite Erfüllung der Ziele bis ins Jahr 2030 soll der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene dienen. Hohe Priorität wird hierbei Themen wie Frieden, Ernährungssicherheit und nachhaltige Landwirtschaft, Wasser und Verbesserung der Hygiene, aber auch Energie, Bildung, Gesundheit und Armutsbekämpfung beigemessen. Der fortschreitende Klimawandel und die Abnahme der Biodiversität aufgrund von Importen stellen auch in Österreich ein kritisches Thema dar. Rund ein Drittel der heimischen Tier- und Pflanzenarten gilt als gefährdet, jede zehnte Art ist sogar vom Aussterben bedroht. Zudem werfen das vermehrte Verkehrsaufkommen und die zunehmende Hitze in den Städten, Chancenungleichheit im Bildungssystem, Sexismus im öffentlichen Raum, Ressourcenknappheit und nicht nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen grundlegende Fragen auf.

Der Sustainable Development Report 2021 (Cambridge University Press, siehe: https://dashboards.sdgindex.org/) zeigt klaren Handlungsbedarf. Bei der Entwicklung von nachhaltigen Konsum- und Produktionsweisen (SDG 12), der Stärkung von Umsetzungsmitteln und globalen Partnerschaften (SDG 17) und dem Klimawandel (SDG 13) steht die SDG-Ampel hierzulande nämlich auf Rot. Laut Historiker und Kulturanthropologe Leo Kühberger spielen die SDGs in der lokal-politischen Debatte derzeit dennoch keine bedeutsame Rolle.

Die Vision

Anders als die Agenda 2030 der UNO, die die weltweite Entwicklung von 2015 bis ins Jahr 2030 überprüft, geht InterACT noch einen Schritt weiter. Im Rahmen von „Young People Acting“ entwerfen die 15 jungen Projektteilnehmer:innen ein Graz im Jahr 2040, in dem die SDGs radikal umgesetzt wurden. Typisch für die gesellschaftskritische Grazer Theaterwerkstätte, die „Theater und szenisches Spiel für eine Kultur des Dialogs und des Zusammenlebens, für Empowerment und Partizipation sowie für persönliche und soziale Veränderungsprozesse nutzbar macht“ (https://www.interact-online.org/interact/profil), wird hier ein Gedankenexperiment inszeniert, das gesellschaftliche und strukturelle Veränderungen in den Vordergrund rückt.

„In Graz gibt’s im Moment 170.000 Autos. Das ist sowas von absurd. Es wird 2040 einige wenige tausend geben, die wir alle gemeinsam nutzen,“ schildert Kühberger im Gespräch mit InterACT. Tatsächlich stellt Mobilität einen entscheidenden Knackpunkt dar. Fahrrädern und Fußgänger:innen soll im öffentlichen Raum mehr Platz eingeräumt werden. Individualverkehr und Verbrennungsmotoren sollen durch ein gut organisiertes öffentliches Verkehrsnetz ersetzt werden. E-Mobilität und eine generelle Verkehrsberuhigung werden ebenfalls gefordert.

Der Vorteil einer ganz autofreien Innenstadt wäre der gewonnene Platz, der in Grünflächen umgewandelt werden könnte, wie auch die erhöhte Luftqualität. Mehr Grün in der Stadt – zum Beispiel auch durch begrünte Fassaden und Dächer und Fließgewässer im Stadtraum würden zunehmenden Temperaturen entgegenwirken. Durch Begegnungsräume und Sitzmöglichkeiten wären die Straßen belebter und sicherer, was wiederum positive Auswirkungen auf die Gesundheit hätte. Gesundheitswissenschaftler Martin Sprenger plädiert im Gespräch mit InterACT zudem für eine möglichst bunte Gesellschaft, in der Vielfalt zur Normalität wird: „Leben und leben lassen, das ist ein bisschen mein Motto.“

Weiters fordern Expert:innen, dass mehr Wert auf nachhaltige Wasserver- und Entsorgung, erneuerbare Energien wie Solarenergie, Nahversorgung mit regionalen Produkten und das Reparieren von beschädigten Geräten gelegt wird. Auch gemeinschaftliche Wohnprojekte, eine direktere Demokratie und Städtepartnerschaften sollen bis 2040 mehr ins Zentrum rücken.

Die Bildung als „eine der wichtigsten Gesundheitsdeterminanten überhaupt in Bezug auf ein langes, gesundes Leben“ wird in Graz 2040 anders ausschauen, so Sprenger. Hier heißt es, Chancengleichheit für alle zu garantieren indem auch in die Schulen des rechten, westlichen Murufers investiert wird und schulexterne Bildungsangebote wie Gewaltpräventionsworkshops zu unterstützen.

In der Arbeitswelt stehen genauso Veränderungen an. Gertrude Peinhaupt, Vorstandsmitglied des Grazer Frauenrats, fordert eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, geringere Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern, eine Vermischung der klassischen Frauen- und Männerberufe und die Aufwertung des Care-Bereichs. Zudem sollte sich bis 2040 eine 30-Stunden-Woche durchgesetzt haben. Laut Gerd Kronheim, Obmann des Netzwerks der Beschäftigungsbetriebe Steiermark, muss man klar zwischen Arbeit zur Einkommenssicherung und Arbeit als Beitrag zur Gesellschaft differenzieren. Eine Variante des Grundeinkommens und weniger traditionelle Arbeitsformen wie Altersteilzeit und stundenweise Beschäftigung sind erwünscht. „Da muss es ein komplettes Umdenken geben,“ das steht für Kronheim fest.

Utopie oder bald Wirklichkeit?

Viele dieser Punkte können bis ins Jahr 2040 tatsächlich umgesetzt werden – und zwar nicht nur auf der Bühne. Sprenger blickt der Zukunft optimistisch entgegen, denn Graz als Studenten- und Multi-Kulti Stadt hat alles, was für eine nachhaltige Entwicklung nötig ist. „Wir sind am richtigen Weg“, meint auch Kronheim, „aber es gibt noch ganz viele Fallen und Stolpersteine dorthin.“ Vor allem von Seiten der Wirtschaft und der Automobil-Branche ist mit Widerstand zu rechnen. Zudem werden durch Umverteilungsprobleme, Klimawandel und zunehmende Ressourcenknappheit weitere Beschwernisse entstehen.

Obwohl für eine radikale Umsetzung der SDGs in Graz die Weichen noch richtiggestellt werden müssen, dürfen wir uns laut Kühberger nicht von „einem Realismus und Pragmatismus in unseren Träumen beschneiden lassen“. Denn eines der größten Probleme unserer Zeit ist ganz klar, „dass wir uns oft nicht vorstellen können, dass es anders sein könnte.“

Ob die Produktion „Graz 2040: Wagen wir den Blick“ als Utopie oder zielführendes Gedankenexperiment aufgefasst werden kann, wird sich diesen Samstag im Kristallwerk zeigen.

Mehr Informationen und Reservierung unter: https://www.interact-online.org/aktuell/graz-2040-young-people-acting

 

Bild: Wolfgang Rappel / InterACT


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