Europa, wer bist du, eine Mutter?
Wir waren keine Verbrecher und hielten die Hände hoch in die Luft, als die Polizisten uns an der Grenze festnahmen. Unsere Rucksäcke waren voll mit Äpfeln und uns überwältigte Angst und Schrecken. Ich fragte mich „Ist das letzte Stück unseres Flucht-Puzzles endlich vervollständigt?“ Gibt es hier, was wir lange suchten: Menschenrechte? Es war November und sehr unbarmherzig, ich spürte an meinen Füßen nichts und meine Mutter konnte schwierig Schritte machen. Eine Polizistin mit roten Haaren schubste sie öfters. Ihr Gesicht überlief Fremdenhass und in uns Hoffnung mit Entkräftung. Zwei Stunden Später wurden wir in der Polizeistation vor Überwachungskamera entkleidet und in die Haftzelle geliefert. Meine Haare sträubten sich, als ich die Haftzellen im Hof sah. Ein kleiner Quadratmeter zum Sitzen, vielen Nationalitäten. Ich fragte mich „Bin ich eine Verbrecherin? Was ist meine Schuld?“ Denn wir schauten nicht wie Kriminelle aus. Niemanden verletzten wir und nahmen das Leben weg außer uns selbst, nachdem wir uns für die Flucht nach Europa entschieden hatten. Die Kälte blies durch die Gefängnis-Stangen und die Polizistin mit roten Haaren machte die Tür auf. Sie hielt in der Hand ein Sackerl mit Wurstsemmel. Meine Augen glänzten und ich durfte mich auf eine Portion freuen. Nein, keine Freude, keine Portion, keine Empathie. Zwanzig Wurstsemmeln für sechzig Leute in der Haftzelle mit überlaufendem Quadratmeter. Ich wurde gezwungen nackt vor Überwachungskameras zu stehen, meinen Rucksack mit Äpfeln abzugeben, in einer Haftzelle einen Sitzplatz zu bekommen. Trotzdem wartete ich ein friedliches, menschliches und gewaltfreies Europa ab. Europa, wer bist du, eine Mutter?
Asiyeh Panahi, November 2020
Dieser Text erschien ursprünglich im Megaphon (www.megaphon.at)
Foto: Quelle: dpa/Petros Giannakouris