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Wenn Freizeit die größte Herausforderung unserer Zukunft, und Arbeit zu einem Menschenrecht wird


Wenn man Menschen heute fragen würde, was die größte Herausforderung unserer Zukunft sein wird, liegen die Antworten wohl auf der Hand: Klimawandel, Krieg und die damit verbundenen Migrationsströme, Finanzkrisen und wirtschaftliche Unsicherheit. Ebenso das derzeit wütende Coronavirus zeigt die Vulnerabilität unserer (globalisierten) Gesellschaft und schürt Angst, ob Pandemien dieser Art unsere Zukunft bedrohen werden. Auch einer der bedeutendsten Ökonomen der Geschichte – John Keynes – hat sich bereits vor fast 100 Jahren die Frage nach der größten Herausforderung im 21. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort war klar: Was werden wir mit all unserer Freizeit anfangen?

Es war im Sommer 1930 als der britische Ökonom in einem Vortrag in Madrid die Welt in 100 Jahren zeichnete. Seine Theorie: Im Jahr 2030 wird der westliche Lebensstandard das derzeitige Niveau um das Vierfache übersteigen. Die logische Konsequenz daraus? Wir alle würden nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten. Und mit dieser Meinung war er nicht allein. Auch Karl Marx und Benjamin Franklin prophezeiten einen 4 Stunden Tag als die Norm im 21. Jahrhundert. Der Science-Fiction Autor Isaac Asimov erklärte 1964, dass in 50 Jahren die Psychiatrie der größte medizinische Fachbereich sein werde, weil die Bevölkerung an dem Gros an Freizeit verzweifeln und vermehrt unter psychischen Erkrankungen leiden werde.[1]

Der Wohlstand nimmt zu, die Freizeit nicht

Nun behielt Asimov zumindest teilweise recht. Psychische Erkrankungen nehmen in unserer Gesellschaft stetig zu. Grund dafür ist allerdings nicht Langeweile, sondern Stress, ständiger Druck und Anforderungen in der Arbeitswelt, denen man nicht mehr gerecht werden kann. Das Burn-Out Syndrom ist von einer Modeerscheinung zu einer Volkskrankheit geworden.

Auch Keynes sollte nicht recht behalten. Der Wohlstand in einigen europäischen Ländern beträgt nämlich bereits das Fünffache im Vergleich zu 1930, während etwa in Österreich die Arbeitszeitverkürzung seit den 1980er Jahren zum Stillstand gekommen ist.[2] Im Gegenteil, wir arbeiten immer mehr. Während vor 50 Jahren Frauen noch durchschnittlich zwei bis sechs Prozent des Familieneinkommens erwirtschafteten, sind es mittlerweile 40%.[3] Der erwartete Effekt, dass Familien dadurch in ihrer Erwerbstätigkeit entlastet werden, ist nicht eingetreten. Sowohl Männer als auch Frauen sind mehr von Arbeit belastet als je zuvor.

Digitalisierung und Bullshit Jobs

Der Grundgedanke dieser Vordenker war dabei allerdings im Kern nie falsch. Die Produktivität unserer Wirtschaft erzeugte ungehörigen Wohlstand. Während vor einigen Jahrhunderten noch fast jeder Arbeitsplatz in der Landwirtschaft angesiedelt war, machen heute Landwirt*innen nur noch einen Bruchteil der Volkswirtschaft aus. Produktivität und Automatisierung machten es möglich und sorgten dafür, dass die meisten Arbeitsplätze in den Dienstleistungssektor wanderten. Zunehmend wurden Berufe wie Broker*in, Banker*in, Wirtschaftsprüfer*in oder Steuerberater*in geschaffen. Berufe, die Qualifikationen, Bildung und hohe Arbeitsleistung erfordern, aber kaum neuen Wohlstand schaffen, sondern diesen bloß verschieben.

Während Berufe mit weniger Qualifikationsanforderungen von der Digitalisierung bedroht werden, treten viele die Flucht nach vorne an und stürmen Universitäten und Fachhochschulen, um in eben diese hochqualifizierten Jobs zu kommen. Dieses Phänomen gipfelt in der Schaffung sogenannter „Bullshit Jobs“, also Berufen, die von den Menschen, die sie ausüben, als sinnlos erachtet werden. So gaben etwa die Hälfte der Befragten einer Umfrage des Harvard Business Review an, in einem Job zu arbeiten, der ihrer Meinung nach keinen Mehrwert für die Gesellschaft hat.[4]

Hatte Keynes also doch recht?

Die größte Herausforderung nach Keynes hat die Menschheit also bisher dadurch gelöst, sich ihr überhaupt nicht zu stellen. Stattdessen wurden immer mehr Jobs geschaffen, bei denen wir selbst oft nicht wissen wozu es sie gibt. Anstelle von mehr Freizeit hat uns der Wohlstand mehr Konsum gebracht. Doch in Zeiten von künstlicher Intelligenz und Computer, die intelligenter als Menschen sind, macht die Digitalisierung der Zukunft auch vor durchschnittlich qualifizierten Berufen keinen Halt.

Was überbleibt sind besonders hoch qualifizierte Jobs und solche, die derart unterbezahlt sind, dass eine Digitalisierung nicht wirtschaftlich wäre. Es kommt zu einer Polarisierung des Arbeitsmarktes, die die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandertreiben wird. Die Mittelschicht der Arbeitswelt droht wegzubrechen und das obwohl unser Wohlstand gesichert scheint.

Das zu unterbinden wird die oberste Priorität in bereits nicht allzu ferner Zukunft haben. Modelle wie eine 15 Stunden Woche, das bedingungslose Grundeinkommen oder bloß der Gedanke, dass Erwerbstätigkeit nicht das einzig Sinnstiftende in unserem Leben ist, können bald schon gesellschaftsfähig sein. Freizeit – so absurd es heute auch klingen mag – könnte somit tatsächlich zu einer der größten Probleme werden. Arbeit hingegen zu einem Privileg, das nicht mehr bloß zum Geldverdienen dient, um sich Miete und Lebensmittel zu finanzieren. Wenn wir plötzlich nicht mehr von unserem Erwerbseinkommen abhängig sind, werden wir unserem Leben neuen Sinn geben müssen. Am Ende könnte auch ein Menschenrecht auf Arbeit stehen.


[1] Vgl. Isaac Asimov: „Visit to the world’s fair of 2014“ in: NY Times 16. August 1964

[2] Vgl. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/
@dgreports/@dcomm/@publ/documents/
publication/wcms_104895.pdf

[3] Vgl. https://www.theatlantic.com/magazine/archive
/2010/07/the-end-of-men/308135/

[4] Vgl. https://www.nytimes.com/2014/06/01/opinion/
sunday/why-you-hate-work.html

Foto: https://pixabay.com/photos/apple-computer-browser-
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