![](https://www.kennedeinerechte.at/wp-content/uploads/2019/11/humanismus_header.jpg)
Von der Würde – Versuch einer Neuausrichtung des Humanismus für das 21. Jahrhundert
Angesichts des Klimawandels, der ‚Renationalisierungen‘ und postmoderner Verunsicherungen scheint die Idee des Humanismus, die sich auf eine universelle Konzeption der Menschheit als Ganzes beruft, in eine Krise geraten zu sein. Können wir heute ein Weltbild vertreten, dass den Menschen als solches – unabhängig von Alter, Geschlecht, Sexualität, Herkunft und Hautfarbe – in den Mittelpunkt stellt? Der Begriff der Würde könnte als Ausgangspunkt genommen werden, um die Idee des Humanismus neu zu beleben: Würde, die dem Einzelnen zusteht, die aber auch eine Gesellschaft voraussetzt, die Individuuen nicht alleine lässt. All das sollte uns zu einer „bedingunglosen Aufrichtigkeit gegenüber allem Lebendigen“ führen, um es mit den Worten von Max Frisch auszudrücken, die in der außergewöhnlichen Rolle der Menschen in der Welt auch eine große Verantwortung sieht. Nehmen wir sie an!
Humanismus, Moderne und Aufklärung gingen immer mit einer Unterwerfungsgeste einher: indem der Mensch sich als individuell verstehendes und handelndes Wesen über alles andere Lebendige stellte, sich selbst einer Besonderung unterzog, stieß er das ihm andere ab. Die Ideen von Kultur und Zivilisation überlagerten, verdeckten nicht nur die Umwelt und die Natur, sondern sie entwerteten auch andere menschliche Existenzformen, die sich nicht in die europäischen Ideale (immer als universelle verstanden) einordnen ließen.
Ausbeutung, Gewalt, Unterdrückung, die sich gegen andere Menschen sowie gegen nicht-menschliche Lebewesen, auch gegen die Umwelt als Ganzes richteten, waren von Anfang an die Kehrseite hehren Fortschrittsglaubens, der die Menschheit (aus europäischer Perspektive) in einem Prozess schrittweiser Emanzipation begriff. Freiheit wurde so zum Leitbegriff der neuen Zeit, der für die einen ein Versprechen des Glücks bedeutete, für die anderen eine zynische Rechtfertigung von Ausbeutung und Gewalt.
Die Idee der Modernisierung sowie die Idee der Aufklärung können wohl letztlich an die Idee des Humanismus rückgebunden werden. Das In-den-Mittelpunkt-stellen der Menschheit im ersten Schritt und das In-den-Mittelpunkt-stellen des Menschen innerhalb der Menschheit im zweiten schaffen erst die Voraussetzungen für die Logik der Befreiung und die Logik der Bemächtigung, die im Begriff der Moderne dialektisch ineinander verschränkt sind.
Im 20. Jahrhundert, angesichts der neuen Barbarei in Form von Krieg, Totalitarismus, Verfolgung und systematisch-industrieller Vernichtung (eigentlich eine schaurige Parodie der Industrialisierung), wurde das Kritische am europäischen Erbe der Moderne, der Aufklärung und des Humanismus ausführlich aufgearbeitet . Dadurch ließen sich die Begriffe der Moderne, der Aufklärung und des Humanismus nicht überwinden – oft war das auch gar nicht die Ambition der Kritiker. Viel eher ging es zumeist um einen weiteren Schritt der Reflexion, der Bewusstwerdung, der Rationalisierung und des Fortschritts, der eigentlich den bereits begangenen Weg fortsetzen sollte, nur eben mit anderen Vorzeichen, so dass sich die Urkatastrophen des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen könnten: die beiden Weltkriege, die Shoah, der Faschismus, der Stalinismus.
Kritiker der Kritiker warfen diesen oft vor, in Irrationalität zurückzufallen, vom „graden Weg“ der Moderne hin zur Befreiung und Erkenntnis, hin zur rationalen Welterschließung und Weltgestaltung abgekommen und in die Untiefen des Widersinns hinabgestiegen zu sein. Das basierte auf einem Missverständnis. Ebenso basiert es auf einem Missverständnis, wenn die heutigen Entwicklungen – Polarisierung, Rechtspopulismus, Affektpolitik – rein als Rückfall und Abweichung gedeutet werden. Dabei begeht man den gleichen Fehler, den man schon im 20. Jahrhundert gemacht hatte, als man die Schrecken von dessen erster Hälfte exotisiert hatte.
Die Figur des aller Menschheit beraubten Nazi-Schergens zeugt davon: nicht mein Großvater hat gemordet, sondern ein Fremder ohne Namen, ohne Gewissen, ohne Charakter. Dass es Menschen waren, die andere Menschen entmenschlichten, wird mit der Entmenschlichung der Entmenschlicher verschleiert. Der alten Frage: „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ weicht man damit nur aus. Es ist ja genau die Zumutung, der ungeheure Skandal, dass sich der Mensch sich immer in beiden – Opfer und Täter – wiedererkennen kann. Damit sollen keine Sympathien für die Täter geweckt werden, unser Mitgefühl soll immer zuerst den Vergessenen, Verfolgten, Vertriebenen und Ermordeten gelten.
Aber wenn man den unmenschlich handelnden Menschen das Menschliche nimmt, entzieht man sich selbst der Verantwortung. Das „Nie wieder!“ wird hohl und leer, sobald man im Gegenwärtigen nicht mehr das Potential der Wiederkehr der Niedertracht erkennt. „Der Schoß ist fruchtbar noch…“ Das Nachspüren menschlicher Niederungen beginnt demnach auch immer bei sich selbst, und die Kritiker des europäischen Erbes im 20. Jahrhundert haben das erkannt und bleiben damit genau in der heutigen Zeit relevant. Die Idee der Doppelwertigkeit des Projekts der Moderne, grenzenlose Befreiung und grenzenlose Bemächtigung, ist heute noch relevant.
Diese Ideen, die Kritiker der Moderne äußerten, sind trotz großen Widerstands selbsternannter Verteidiger der abendländischen Tradition heute in unsere kulturelle Textur eingewoben. Sie kehren wieder in der Argumentation ökologischer Aktivisten, die angesichts der globalen Bedrohung durch den Klimawandel eine neue Perspektive fordern, die den Menschen nicht mehr in den Mittelpunkt stellt.
Ein ganzheitlicheres Bild der Welt, das Pflanzen wie Tiere wie Menschen umfassen soll, wird gefordert. Die Gefahr, die sich daraus ergibt, ist ein einseitiges Aufkündigen der „Dialektik der Aufklärung“, das sich gegenüber dessen befreienden Moment verschließt. Denn auch ein ökologisches, nicht-anthropozentrisches Weltbild hat seine Kehrseite, seinen Schatten. Es unreflektiert zu vertreten, verdeckt das zutiefst Menschliche an der nicht-menschlichen Perspektive. Der Mensch und seine Erfahrung können vom Menschen nicht hintergangen werden. Es gibt keine nicht-menschliche Perspektive als solche, sie kann, wenn überhaupt, nur als menschliches Konstrukt erscheinen. Es ist die perennierende Idee der Transzendenz, die uns Hoffnung gibt, die Sphären des Menschlichen überschreiten zu können.
Es wird uns nicht gelingen. Der Ursprung, an dem wir eins mit der Natur und ganz Tier waren, ist ein Nicht-Ort, ein ‚ou-topos‘. Und wie mit jeder Utopie erwächst auch hier das Problematische: Wann ist der Punkt erreicht, wo die Einholung des selbstgezeichneten Horizonts jegliche Handlung rechtfertigt und unwirkliche, ungelebte Utopie zu wirklich-gelebten Dystopie verkommt?
Zugegeben, die jetzige Debatte ist weit von dem Punkt entfernt, bei dem Aktivismus in Terrorismus, Idealismus in Fundamentalismus kippt. Ignorieren sollte man auch nicht gesellschaftliche Wechselwirkungen, die erklären, „wie Gewalt entstehen und wo sie hin führen kann“. Genauso wie der Faschismus nicht aus der Gesellschaft hinaus erklärt werden darf, so kann man auch nicht mit ideologisch anders motivierter Gewalt verfahren.
Eine liberal-aufgeklärte und humanistisch orientierte Gesellschaft kann nur bestehen, wenn sie ihre eigenen Schwächen reflektiert und das Eigene in dem ihr Anderen erkennt. Nur so kann sie Gewalt antizipieren und verhindern, nur so kann sie gesellschaftliche Integration stiften, die letztlich zu einer Gemeinschaft aus Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit, aber auch Differenz führen soll. Immer wieder müssen wir uns mit unseren eigenen Ansprüchen konfrontieren und mit dem, was wir meinen, wenn wir ‚wir‘ sagen, um Michael Köhlmeier zu paraphrasieren. Was ist dieses Wir, von dem wir sprechen oder von dem ich spreche, und wohin wollen wir damit? Das führt uns zurück zum Humanismus.
Der Humanismus umfasst eigentlich zwei Konzepte, die beide eine gewisse Subjektivität und deren Vorrang beschreiben. Zum einen ist da die Menschheit, als kollektives, unpersönliches Subjekt, und zum anderen ist da der Mensch, als individuelles, persönliches Subjekt. Die Aufgabe der Gesellschaft ist es den Ausgleich zu schaffen zwischen den beiden Subjekten und der objektiven Welt, in der sich diese befinden.
In Hinsicht auf die gewaltigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Klimawandel, neuerstarkter politischer und religiöser Fundamentalismus, zunehmende Ungleichheit und Volatilität – sollte man sich auf einen Kernbegriff der humanistischen Idee besinnen: Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So steht es in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch was bedeutet das? Die Würde des Menschen gesteht dem Einzelnen ein gewisses Maß an Freiheit zu, das zu tun, was er will, so lange es keinem anderen schadet. Auch Teil des Würdebegriffs ist, dass dem Einzelnen ein gewisses Maß an Privatheit zukommt. Als Individuum soll der Mensch nicht auf seine Zugehörigkeiten zu Kollektiven (Familie, Staat, Gesellschaft, Religion) reduziert werden. Jeder hat ein Recht auf Eigenheit. Damit verbunden sind auch eine Reihe von Pflichten und Verantwortungen, die jeder Einzelne zu erfüllen hat.
Was aber gerne übersehen wird ist, dass die Freiheit des Individuums auch dann beschnitten wird, wenn ihm zu viele Pflichten überantwortet werden. Die Würde des Einzelnen hängt auch davon ab, dass er nicht Gesamtschicksalsträger ist, dass es ein ihm Übergeordnetes gibt, das Rahmen für sein freies Handeln setzt und Grenzen schafft. Nur wenn sich der Mensch eines über-individuellen Raums gewahr wird, kann er sich darin frei bewegen, nur in Abgrenzung zu einem Ganzen kann er sich seiner Einzelheit vergewissern, Mensch werden.
Die übergeordnete, anonyme Struktur, die erst die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes, personalisiertes Leben schafft, muss selbst einer Kontrolle unterzogen sein. Ein einseitiges Machtverhältnis zwischen Menschheit und Mensch führt nur dazu, dass der Einzelne zur Sache degradiert wird, dass er Gegenstand der Machtverfügung wird.
Diese Konflikte aktualisieren sich heute in der Debatte, wie dem Klimawandel begegnet werden soll. So lobenswert der Anspruch auch ist, dass jeder Einzelne daran arbeiten muss, sein eigenes Leben so umzustellen, dass es umweltverträglicher wird, so sehr verdeckt es auch den kollektiven Auftrag, den der Klimawandel an uns als Gesellschaft stellt.
Ein grundsätzlicher Strukturwandel ist die Voraussetzung für eine nachhaltige Klimapolitik. Gibt es keinen strukturellen, politischen, ökonomischen Rahmen für Veränderung, wird sie nicht vollzogen werden können. Die Einzelnen werden überlastet durch die Herausforderung, global-kollektive Probleme zu lösen, weil sie sich nicht ihrer Rolle im Ganzen bewusst sind. Es sind nicht die Versäumnisse der Menschen, die uns in die jetzige Lage gebracht haben, es sind die Versäumnisse der Menschheit. Dieses Eingeständnis würde helfen, die Würde der Menschen wiederherzustellen, gleichzeitig würde es eine Abkehr vom Neoliberalismus und seinem forcierten Individualismus bedeuten, die über Jahrzehnte hinweg die Würde des Menschen systematisch zersetzt haben, indem sie den Einzelnen sich selbst überließen. I
m Zerfall der Strukturen wurde der Mensch in seiner Differenz alleingelassen. Kein übergeordnetes, kollektives Subjekt mehr, auf das er sich beziehen, dem er sich zugehörig fühlen, aber von dem er sich auch abgrenzen könnte. Die Entgrenzung der Welt als vielleicht unaufhaltsame Tendenz der Gesellschaft – begriffen in einem Prozess stetig wachsender Komplexität – hat sich mit einer ideologisch motivierten Reduktion der Gesellschaft auf den Einzelnen verbunden und so die gegenwärtigen Ressentiments produziert.
Nur wenn wir diesen Umstand als Gesellschaft einsehen und dem entgegen wirken, können wir die Probleme und Herausforderungen der Gegenwart lösen und die Ideen der Moderne, des Humanismus und der menschlichen Würde in einem neuen Kontext reaktivieren. Oder anders, in den Worten Max Frischs gesagt: Begegnen wir der Welt, den Anderen und uns selbst, „dem Lebendigen“, mit einer „bedingungslosen Aufrichtigkeit“. Das wäre ein Anfang.