Kenne deine Rechte

„Viele sprechen nur mit ihren Augen“


Als offenes Haus, das Menschen mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft bringen soll, so sieht sich die Behindertenbetreuungseinrichtung „Simultania Liechtenstein“ in der Obersteiermark. Hier werden Menschen mit Handicap nicht nur betreut, sie werden auch schaffend tätig. Überdies werden durch die Integration einer Kinderkrippe und die Kooperation mit angrenzenden Schulen zahlreiche Begegnungsmomente zwischen Personen mit und ohne Behinderung geschaffen. Kenne deine Rechte (KdR) hat Mitte September den pädagogischen Leiter und Mitgründer der Einrichtung, Helmuth Ploschnitznigg, besucht.

KdR: „Künstler“, „Humanist“, „Träumer“ – das sind Namen, die dir die Presse gegeben hat. Wie möchtest du denn selbst gesehen werden?

Plo: Ich möchte als Mensch gesehen werden, der ständig etwas verändern will. Gott sei Dank kann ich mit meinem Alter auch noch träumen. Humanist bin ich von Haus aus. Und ob ich Künstler bin, müssen andere beurteilen.

KdR: Muss man ein wenig träumen, um etwas verändern zu können?

Plo: Das glaube ich schon. Das Pragmatische mit einem Traum zu durchbrechen ist die einzige Möglichkeit, eine richtige Veränderung hervorzurufen. Auch in der ganzen eigenartigen politischen Szene in Österreich fehlt es mir an Träumern.

KdR: Der Mensch wird also zu sehr zurückgedrängt von pragmatischen Gedanken oder Wirtschaftlichkeit?

Plo: Ja, aber ich denke, dieses Diktat ist so unauffällig, dass es viele Menschen nicht bemerken. Wir werden teilweise in so eine Situation gedrängt, sodass ich sagen muss, froh zu sein, dass ich in einer Behinderteneinrichtung arbeiten kann – das Ganze streift uns kaum.

KdR: Im Leitbild der Simultania heißt es, Anderssein und Normalsein seien zentrale Bestandteile von Lebensqualität. Wie manifestiert sich das in eurer Arbeit?

Plo: Ich weiß, das klingt floskelhaft, aber es sind die Begegnung auf Augenhöhe und der freundschaftliche Umgang miteinander. Man darf nicht versuchen, die Menschen, die zu uns kommen, zu erziehen. Ich kann die Menschen nur begleiten und ihnen Richtungen anbieten – aber nicht diktieren. Selbstbestimmung ist die oberste Priorität.

KdR: Anders als andere Einrichtungen nennt ihr die von euch betreuten Menschen ja bewusst nicht „Klienten“ oder gar „Kunden“…

Plo: Ich finde diese Bezeichnungen furchtbar. Deswegen nennen wir die Menschen hier auch Freunde. Mir ist es klar, dass man Freundschaften nicht bestimmen kann. Aber es geht um den Umgang miteinander.

KdR: In unserer Gesellschaft scheinen die Gräben zwischen den Menschen wieder breiter zu werden. Wie können wir lernen, uns mit dem anderen auseinanderzusetzen und respektvolle Begegnungsmomente zu schaffen?

Plo: Damit wir das lösen können, müssen wir wieder einen Schritt zurückgehen. Auch was die Simultania anbelangt, habe ich versucht, einen Schritt zurückzugehen. Als ich damals das Konzept für das Haus entworfen habe, habe ich versucht, es so einfach zu gestalten, dass es jeder versteht. Auch bei anderen Problemen wie dem Klimawandel merken wir, dass wir zurückgehen müssen. Aber wir wollen immer weiter und es ist uns komplett egal, was passiert. Ich habe jetzt z.B. ein Bild mit einer schönen Landschaft gemalt, wo der Himmel ein Einschussloch hat und blutet.

KdR: Schafft Kunst ein vertieftes Bewusstsein für die Perspektive des anderen?

Plo: Absolut! Das leben wir auch hier in der Einrichtung. Kunst kann viel verändern. Und es gibt auch kaum Einschränkungen. Einer unserer Freunde ist Spastiker – dem habe ich den Pinsel einfach an die Hand geklebt.

KdR: Sollten sich also alle Menschen mehr künstlerisch betätigen?

Plo: Vielleicht sollten wir vom Begriff Kunst zurückgehen – der ist mir zu wackelig. Aber wenn wir von Kreativität sprechen, dann unbedingt ja!

KdR: Wo finden denn gestresste Menschen den Freiraum und die freie Zeit für Kreativität?

Plo: Die werden ihnen genommen. Wir versuchen heutzutage zwar, mittels Supervisionen oder Fortbildungen wieder Ruhe zu erlernen. Aber dann wird die Ruhe zur Pflicht – und das ist idiotisch. Wenn ich abschalten will, setze ich mich hinter mein Haus in die Natur. Um ruhig zu werden, muss ich also nicht auf einem Fuß stehen und die Hände falten. Stattdessen kann ich stundenlang die Natur beobachten und meinen Hund oder meine Katze streicheln.

KdR: Der syrisch-österreichische Autor Omar Khir Alanam sagte KdR in einem Interview, jede Form von Kunst sei politisch.

Plo: Ja, dem stimme ich vollkommen zu. Ich denke, dass viele der Bilder, die hier [in der Einrichtung, Anm.] oder auch in meinem Atelier entstehen, sehr politisch sind. Und ich denke, dass es eine wesentliche Aufgabe der Kunst ist, auf Dinge aufmerksam zu machen. Die aktuellen Entwicklungen am Burgtheater verfolge ich z.B. mit großem Interesse – da tut sich was.

KdR: Aber ist es denn einfach, heute als Künstler frei zu bleiben? Man denke an die versuchten Eingriffe vonseiten der Grazer Gemeindepolitik in die Aufführungen des Schauspielhauses.

Plo: Da geht es um Satire. Ich finde ja berechtigt, dass man Satire macht. Man muss nur gewisse Grenzen beachten – und nicht unter die Gürtellinie zielen. Aber viele meiner Kolleginnen und Kollegen versuchen ja auch nur ganz bewusst, Missstände aufzuzeigen, ohne jemanden dabei zu verletzen.

KdR: Musik, Bewegung und bildende Kunst bilden einen zentralen Teil eures Aktivitätsfeldes. Wieso sind diese Tätigkeiten so wichtig für eure „Freunde“?

Plo: Es geht um den Menschen als Akteur. Wir haben z.B. kürzlich mit einer nonverbalen Person gearbeitet. Das künstlerische Tätigwerden löst da ganz viele Emotionen aus: Lebensfreude, die Bestätigung: „Ich kann das!“, aber auch Erschöpfung danach. Das sind alles Gefühle, die ich in den Menschen hervorrufen will.

KdR: Du meintest einmal, manche Behindertenbetreuungseinrichtungen würden auf dich wie Ghettos wirken.

Plo: Das war vor 40 Jahren, als ich das erste Mal die Lebenshilfe betreten habe. Da habe ich das Ganze zum ersten Mal gesehen und Umarmungen mit den Menschen dort gespürt. Das Gefühl und die Ehrlichkeit, die mir dort entgegengekommen sind, haben mich unglaublich geprägt. Heute würde ich vielleicht auch nicht mehr das Wort Ghetto in den Mund nehmen. Es war aber eine Art Schutzzone

. Das hat mich so geärgert. Dass wir solche Einrichtungen brauchen, um uns vor diesen Menschen zu schützen.

KdR: Hat die Simultania den Sprung vom „Ghetto“ in die Mitte der Gesellschaft geschafft?

Plo: Ich glaube schon. Ich denke, fast alle Einrichtungen haben diesen Sprung geschafft. Andere Einrichtungen haben von uns gelernt und wir von ihnen. Ich denke, es hat auch politisch ein Umdenken stattgefunden. Man hat erkannt, dass Menschen mit Behinderung einen Platz in der Gesellschaft haben und auch die gleichen Bedürfnisse und Rechte haben.

KdR: Laut eurem Leitbild steht das N in Simultania für „niemals aufgeben“. Gab es Momente, in denen du ans Aufgeben dachtest?

Plo: Die gab es. In meinem Leben war das der Tod meiner Tochter. Aber das sind nur Momente. Danach wird man sich seiner Verantwortung bewusst. Den Schmerz überwindet man jedoch nie. Aber der Tod meiner Tochter hat mich vor allem eines gelehrt: Keine Angst zu haben. Ich habe 35 Jahre lang in Angst um sie gelebt – die ist jetzt weg.

KdR: Was gibt dir die Energie, dich trotzdem noch so eifrig zu betätigen?

Plo: Ich lebe hier. Ich gehe nicht arbeiten – das war, als ich Lehrer war, nicht anders. Ich komme jeden Tag hierher, frühstücke das zweite Mal. Das erste Mal frühstücke ich auf meiner Terrasse – auch im Winter – mit meinen Tieren. Aber hier gibt es für mich so einen Familienmoment. Das gemeinsame Begrüßen und Verabschieden hier gibt mir unglaublich Kraft und Verbundenheit.

KdR: Du selbst hast ja Kunst studiert und bist als Künstler tätig. Auffallend an deinen Bildern ist vor allem das starke Spiel von Licht und Schatten sowie Farbe und Farblosigkeit.

Plo: Es gibt ja Künstlerinnen und Künstler, die die Sau rauslassen und malen, was von innen kommt. Das war ich nie. Ich war immer von einer Idee geprägt. Blöd ist es halt, wenn man hundert Ideen hat und nur zwei Bilder im Monat malen kann. *lacht* Das Bild ist bei mir also schon im Kopf fertig. Und das Schöne ist: Ich male ja eigentlich nur für mich.

KdR: Auffallend: die leuchtenden Augen der Menschen in deinen Bildern.

Plo: Das ist es: die Augen der Menschen zu sehen. Ich komme mit so vielen Menschen zusammen, die nur mit ihren Augen sprechen. Ich kann in Augen versinken, vor allem in Kinderaugen. Das war auch bei meiner verstorbenen Tochter so. Sie hat mit ihren Augen mit mir gesprochen. Und ich konnte sie verstehen – wenn nicht, möchte ich sie um Verzeihung bitten. Aber Augen spiegeln wirklich die Seele eines Menschen wider.

ad personam: Helmuth Ploschnitznigg wurde in Graz geboren. Nach dem Studium der Malerei in Graz, Wien und Kopenhagen war er lange Zeit als Kunsterzieher an einem Gymnasium in der Obersteiermark tätig. Gemeinsam mit Reinhard Kollmann gründete er die „Simultania Liechtenstein – Verein zur Förderung von Menschen mit Behinderungen und deren Umfeld“. Nach dem Aufbau einer Tagesstätte für Menschen mit Behinderung im Jahre 2004 folgten sukzessive die Integration einer Kinderkrippe und Schulklassen des nahegelegenen Gymnasiums. 2007 wurde auch ein Wohnhaus errichtet. Ploschnitznigg selbst ist als pädagogischer Leiter der Einrichtung und Maler tätig.


Kenne deine Rechte bedankt sich bei Plo für das Interview!

Hier gibt es ein paar fotographische Eindrücke aus dem Alltag in der Simultania Liechtenstein

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Simultania Liechtenstein


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