
Eine Frage des Verfahrens
Woran denkt man, wenn man heute an Feminismus denkt? Vermutlich an #metoo, #timesup und die sich überschlagenden Ereignisse vom Herbst, die einige männliche Filmgrößen und ihre Übergriffe auf Frauen demaskierten und eine Debatte rund um komplexe, schwierige Themen wie Macht, Missbrauch und Vergewaltigung auslösten. Von Hollywood ausgehend nützten tausende Frauen weltweit die Möglichkeit, ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen im Internet – zumeist auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter – zu veröffentlichen. Plötzlich sah sich eine Gesellschaft, die sich gerne mit ihrer Fortschrittlichkeit im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter brüstet, ihren eigenen Schwächen gegenüber. Frauen haben auch im Westen – natürlich in einem ganz anderen Ausmaß als zum Beispiel in der arabischen Welt – mit einem patriarchalen System zu kämpfen, und um das zu leugnen, bedarf es nun schon einer ausgeprägten Faktenaversion. Trotzdem lässt sich nicht nur Positives über die #metoo Bewegung sagen, das hat in erster Linie mit ihrer Plattform zu tun.
Die Bewegung wäre wohl ohne die Informationsinfrastruktur, die das Internet bietet, nicht möglich gewesen, vor allem in ihrem globalen Charakter. Das macht die Erfolge der Bewegung auch zu den Erfolgen des Internets und beweist dessen demokratisches Potenzial. Doch das Internet ist kein Gerichtshof. Das gesetzliche Protokoll, historisch gewachsen und bewährt, regelt den Umgang mit strafrechtlich relevanten Anschuldigungen. Auf einen Verdacht oder eine Unterstellung folgt eine polizeiliche Untersuchung. Liefert diese genug Hinweise, kann es zur Anklage kommen. Erst mit Abschluss des Prozesses wird die Schuldfrage juristisch geklärt. Bis dorthin gilt die Unschuldsvermutung. Sollte das Verfahren ohne eindeutige Ergebnisse enden, so gilt: In dubio pro reo (Im Zweifel für den Angeklagten). Nur so kann gewährleistet werden, dass das Gericht nicht zum Schauplatz von Rache und Willkür wird. Das System ist weit davon entfernt, ideal zu sein, doch alle bisherigen Alternativen haben sich als wesentlich ungerechter erwiesen
. Das Internet ermöglicht, dass Vorwürfe zu Verurteilungen umgedeutet werden, da im neuen, privat-öffentlichen Raum der sozialen Netzwerke jede/r sich zum/zur Richter/in erheben kann. Wenn aber eine bloße Anschuldigung ausreicht, um das Leben eines anderen aus den Fugen zu bringen, offenbart sich eine unglaublich zerstörerische Kraft, die den sozialen Frieden bedroht. Deshalb sind auch Betriebe gefordert, ebenso juristischen Prinzipien zu folgen, nicht etwaigem Druck aus der digitalen Pseudo-Öffentlichkeit nachzugeben und nur zu handeln, wenn es auch wirklich handfeste Beweise oder eine Häufung von Beschwerden gibt. Ein Mann sollte nicht seine Arbeit verlieren, wenn eine Frau behauptet, dass es zu sexuelle Übergriffen gekommen sei – ein Mann sollte seine Arbeit verlieren, wenn es ihm bewiesen wird.
Hier lässt sich der Fall Woody Allen anführen, an dem die Verfehlungen von #metoo gemessen werden können. Inmitten einer schwierigen Scheidung taucht die Anschuldigung auf, Allen hätte seine Stieftochter Dylan Farrow, damals sieben, unsittlich berührt. Nach monatelanger Untersuchung und einem rechtsmedizinischen Gutachten entschied sich die Staatsanwaltschaft gegen eine Anklage. Diese Entscheidung wurde von mehreren Seiten kritisiert. Farrow beteuert bis heute, dass sie von Allen missbraucht wurde, er das Gegenteil. Aussage steht gegen Aussage, auch wenn man sich natürlich emotional verpflichtet fühlt, eher mit dem vermeintlichen Opfer zu sympathisieren. Trotzdem scheint es befremdlich, wenn im Zuge der #metoo-Bewegung eine Reihe von SchauspielerInnen eine Zusammenarbeit mit Woody Allen ausschließt und teilweise sogar bisherige Kollaborationen als die größten Fehler ihrer Karriere bezeichnet, wie es zum Beispiel Ellen Page getan hat, und das aufgrund jahrzehntealter Vorwürfe, die gerichtlich in Zweifel gezogen worden sind. Woody Allen ist über 80 und einer der produktivsten, künstlerisch und kommerziell erfolgreichsten Regisseure Amerikas, er wird das verkraften. Trotzdem wirft sein Fall die Frage auf, wie wir als Gesellschaft Gerechtigkeit und Wahrheit definieren und wie wichtig uns das juristische Verfahrensprozedere ist.
Im Hinblick auf sexuelle Gewalt muss es jedenfalls eine Sensibilisierung geben, denn auf die psychischen Traumata von Opfern wird viel zu wenig Rücksicht genommen. Trotzdem darf die justizielle Integrität nicht durch den Opferschutz erodiert werden, sie ist das Fundament eines funktionierenden Rechtsstaates. Dieser wird besonders durch die Massendynamik, die auf sozialen Netzwerken entsteht, gefährdet, da es oft zu einer Vervielfachung und Verbreitung unvollständiger, verzerrter Darstellungen kommt und Debatten hysterisch, aggressiv geführt werden. So wurde die kanadische Autorin und Feministin Margaret Atwood des Verrats bezichtigt, weil sie in einem Artikel für das gerichtliche Verfahren und die Unschuldsvermutung eingestanden war. Ein Sinnbild für die emotionalisierte, substanzlose Diskussionskultur in sozialen Netzwerken.
Es ist nicht Aufgabe der Politik, der Medien oder der breiteren Öffentlichkeit, sich an der Wahrheits- und Schuldfindung individueller Verfahren zu beteiligen, das fällt in den Zuständigkeitsbereich der Justiz. Viel eher sollten sie sich daran beteiligen, die Stellung der Frau auf gesellschaftlicher Ebene zu fördern. Das aktuell eingeleitete Frauenvolksbegehren spricht zum Beispiel viele wichtige Themen an
. Die Anhebung des Strafausmaßes für Sexualverbrechen geht dafür wieder in eine völlig falsche Richtung. Es gibt viel zu tun, um mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Sicherheit in unserer Gesellschaft zu garantieren. Hexenjagden – wie Atwood sie nennt – auf Facebook oder Twitter dienen dagegen eher der Selbstinszenierung als echter Veränderung.