
Werteverwirrungen und Rollenverirrungen
Donald Trump bekleidet nun seit etwas mehr als einem Jahr das wohl mächtigste Amt der Welt. Es wird Jahre der Reflexion brauchen, um die Entwicklungen, Zerwürfnisse und Widersprüche, die zu einer Erosion sämtlicher politischer Umgangsformen und gesellschaftlicher Werte geführt und so seinen Aufstieg erst ermöglicht haben, aufzuarbeiten. Wie kann man erklären, dass ein erratischer, kindischer, vulgärer, narzisstischer Milliardär ohne politische Erfahrung nun an einem Tisch mit gediegenen Politprofis wie Angela Merkel oder Emmanuel Macron sitzt und die Geschehnisse der Welt zu lenken versucht? Viel wurde schon geschrieben über die zurückgelassenen weißen Arbeiter, die Verlierer der Globalisierung, über Fake News und russische Interventionen, über abgehobene DemokratInnen und eine gespaltene amerikanische Gesellschaft, auseinander getrieben von unvereinbaren Vorstellungen eines idealen Amerika. Zu wenig spricht man jedoch über die neu verteilten Rollen im politischen und gesellschaftlichen Diskurs und den Umgang mit Werten bzw. deren Subversion.
Hier muss man einen historischen Bogen zurück ins Amerika nach dem zweiten Weltkrieg spannen
. Die Nation tat sich als einzig verbliebene westliche Supermacht aus dem Konflikt hervor und genoss einen politischen, wirtschaftlichen Aufschwung, der die Traumata von Krisen, Armut, Isolation und Krieg vergessen machte. Das idealisierte Bild der Neunzehnfünfzigerjahre ist die Grundlage für den Geschichtsrevisionismus heutiger Trump-AnhängerInnen. Ein Haus in der Vorstadt, ein gut bezahlter Job, eine Frau, zwei Kinder – ein Junge, ein Mädchen -, ein schickes, monochrom-leuchtendes Auto, nette Nachbarn. Diese Illusion, verkauft von damaliger Werbung und Filmen, deckt sich mit der Trump‘schen Vorstellung eines „großen“, von weißen Patriarchen dominierten Amerika.
Diese Nachkriegsordnung mit ihren klaren, konservativen Wertestrukturen, die durch strikte soziale Kontrolle aufrechterhalten wurden (man denke an McCarthy, Jim Crow, den Hays Code), geriet in den Neunzehnsechzigerjahren ins Wanken. Eine neue Generation leitete das kurze, aber doch äußerst prägende Zeitalter der Gegenkultur ein. Studentenproteste, Bürgerrechtsbewegung, Hippies, Pazifismus – Hoffnung für die Jugend, apokalyptische Reiter für die später von Nixon heraufbeschworene „stille Mehrheit“. Sie sahen ihre Welt, die sich vor allem über Werte definierte, untergehen. Ein Sündenfall. Und doch ging alles viel langsamer als sich die einen erträumt und die anderen gefürchtet hatten. Konkrete, pragmatische Forderungen wurden umgesetzt. Frauen- und Minderheitenrechte wurden so sehr gestärkt wie kaum zuvor. Doch an den zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnissen ändert sich nur wenig, dem Rausch der Utopie folgte eine lange Ausnüchterungsphase.
In Europa blieben von den Versprechungen der radikalen Linken – auf den Höhen des Mai Achtundsechzig ein essentieller politischer Faktor, zumindest in studentischen Kreisen – vor allem Terrorismus und fehlende Distanzierung vom brutalen Realsozialismus des nahen und fernen Ostens zurück. Die Suche nach neuen Arten des (Zusammen-)Lebens endete im mörderischen Fanatismus heilsversprechender Sekten. Im Dschungel von Guyana fanden fast neunhundert AmerikanerInnen ihren Tod, weil sie an neue Werte, neue Lebensmodelle glaubten. Jonestown schließt das Kapitel, zwei Jahre später wird Reagan Präsident und weitere vier Jahre später mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. „It’s morning again in America“, lautete ein bekannter Slogan des ehemaligen Filmstars (eine weitere Parallele zu Trump). Man besann sich wieder auf alte Werte, im Kino blickten Filme wie „Back to the Future“ mit Augenzwinkern auf die Neunzehnfünfziger zurück. Die ZuseherInnen bekommen den Eindruck, nie wurde unschuldiger, glücklicher geliebt und gelebt. Ein großer Teil amerikanische Popkultur scheint plötzlich darauf bedacht, nach der großen Werte-Erschütterung der Sechziger und Siebziger, nach der nationalen Paranoia und Unruhe, die Watergate und der Vietnamkrieg nur intensivierten, die Unschuld wiederherzustellen.
Bemerkenswert ist die Faszination für Kinder und Familie, die Filme dieser Zeit zeigen. Sie sind das Symbol der Werterneuerung, der unbefleckte Kern der Gesellschaft. Doch trotz der konservativen, konformistischen Grundhaltung, die in dieser Zeit wieder zur Norm wurde, kommt es zu einer schleichenden Entwicklung, die vielen der wiederentdeckten Werte ihre Legitimität abspricht. Der wirtschaftliche Liberalismus der Reagan-Jahre wird um einen gesellschaftlichen Liberalismus erweitert. Dieser Prozess findet in ähnlicher Form parallel in Europa statt. Political Correctness wird zum zentralen Begriff des neuen Wertekanons und plötzlich ergibt es sich, dass moderat progressiven Kräften eine normative Rolle zukommt – zumindest im urbanen Raum und in den Medien. Tugendhaftigkeit wird nun an Toleranz und Offenheit gemessen. Empörung ist jetzt politisches Kapital der Linken und nicht der Konservativen.
In diesen Kontext muss man den Aufschwung des Rechtspopulismus und die Präsidentschaft Trumps setzen, durch die sich die Linken in der Rolle des Werte-Erhalters wiederfinden. Während sie den Status Quo verteidigen, entdecken ihre Gegenspieler Provokation als politische Strategie für sich. Alternative Rechte, alternative Fakten, Alternative für Deutschland. Rechts ist alternativ und kantig, links ist alt und angestaubt. In Folge einer Werteverunsicherung, die uns an den Prinzipien der Weltoffenheit und Vielfalt zweifeln lässt, losgetreten durch Globalisierungskrisen und Flüchtlingsströme, werden politische Marken neu gedacht. Rechte Visionen lassen sich leichter verkaufen als linke Visionslosigkeit.
In Österreich schaffte Kurz den Spagat zwischen Anständigkeit und Alternation und konnte sowohl das Bedürfnis nach Beständigkeit als auch den Wunsch nach Veränderung befriedigen. Nur mit einem als Erneuerung und Verjüngung getarnten Rechtsruck vermochte die Bürgerpartei die Burschenpartei in Schach zu halten. Ähnliches gelang den Republikanern nicht. Trump und seine neuen Rechten sind am Zenit der Macht angelangt und können sich doch nicht von ihrer Oppositionsrolle lösen, da sie sich durch diese erst definieren
. Ständige Tiraden gegen Clinton, Obama und den „Deep State“ – eine vermeintliche Schattenstruktur, die den gesamten Staatsapparat durchziehe und von Demokraten gesteuert sei – beweist eine Obsession mit Opposition, eine Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und entlarvt das Gegenmodell der Rechten als Scheingebilde.
Wie lange es dauern wird, bis sie ihre Macht wieder abgeben, kann man trotzdem momentan nicht absehen. Politik ist immer ein Zusammenspiel von Realitäten und Illusionen, von Verstand und Gefühl. Ein bloßes Aufzeigen der Verfehlungen der neuen Regierungen wird nicht ausreichen, denn Werte, die bei jeglicher politischen Auseinandersetzung eine Rolle spielen, haben zwar einiges mit unserer Ratio zu tun, doch auch sehr viel mit unserer subjektiven Wahrnehmung. Welche Werte uns wichtig sind, spielt eine entscheidende Rolle in unserem politischen Verhalten und die Wertvorstellung der Mehrheit scheint sich immer mehr der rechten Vision von Rückbesinnung anzunähern – dementsprechend fallen die Wahlergebnisse aus. Forderungen der Populisten, die vor einigen Jahren noch für Aufruhr sorgten, sind längst salonfähig geworden. Die Rolle der Opposition, an die sich die Rechte noch so verzweifelt klammert, wird wohl bald unglaubwürdig werden, wenn diese Werteverunsicherung in eine wahrhaftige Werteumkehr mündet und Prinzipien der Offenheit und Toleranz gegen Ausgrenzung und Isolation getauscht werden. Die Linke wäre wieder in der Position machtloser Gegnerschaft – vielleicht fühlt sie sich ja dort auch wohler.