
Menschenrechte geht anders
Die Situation in Israel-Palästina ist unglaublich verfahren und wird sich nur schwer ändern. Generelle Anschuldigungen der systematischen Menschenrechtsverletzung stoßen auf taube Ohren. Wie kann man den Menschenrechtsbegriff trotzdem für das Gute einsetzen? Wie muss man ihn vielleicht anders denken, um ihn konstruktiv auf die Gegebenheiten anzuwenden?
In Israel wird man moralisch abgehärtet oder sensibilisiert – und manchmal beides. In einem Land zu leben, in dem man vor Terrorismus berechtigte Angst haben muss und wo mehrere Millionen Menschen in ihrer Bewegungs- und (damit) auch ökonomischen Freiheit in einer Art und Weise eingeschränkt sind, die für eine/n EuropäerIn unvorstellbar sind, hinterlässt einen Eindruck. Entweder diese Situation macht einen aufmerksam auf Ungerechtigkeit oder sie wird so normal, dass sie nicht weiter Sorgen bereitet. Für mich allerdings, der ich nun knapp fünf Monate in der Jerusalemer Altstadt wohne, hat, was ich hier sehe, dazu geführt, dass ich moralisch viel genauer bin und stärker differenziere
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Der Konflikt
Wovon ich spreche ist natürlich der Israel-Palästina- oder Nahostkonflikt. Ich möchte mir als Laie gar nicht anmaßen, über diesen zu schreiben und mache nur zwei Bemerkungen, die sich gut ergänzen:
Erstens ist die Situation in diesem Konflikt unglaublich verfahren. Nicht nur politisch, ideologisch oder geschichtlich ist das Thema hochkomplex sondern auch real-faktisch. Die 700.000 israelischen Siedler in palästinensischen Gebieten [i] und die 21% der israelischen Bevölkerung, die Araber sind [ii] (welche sich beide eine Existenz vor Ort aufgebaut haben) sowie die Situation in Gaza sind alles große Brocken von sogenannten „facts on the ground“, die man nicht einfach mit einem Friedenspakt beseitigen kann.
Zweitens ist es, sobald man versucht auch nur einigermaßen objektiv an den Konflikt heranzugehen, beinahe unmöglich, eine Seite moralisch eindeutig über die andere zu stellen. Dafür sind die Probleme viel zu selten einseitig. Da genau das aber in der Berichterstattung viel zu häufig gemacht wird [iii], kommt man so auch nicht weiter. Ein Schwarz-Weiß-Denken muss hier zwangsläufig transzendiert werden, wenn man vorankommen möchte.
„Vorankommen“, also einen konstruktiven Unterschied machen, ist speziell auf dieser allgemeinen Ebene des Friedensprozesses praktisch unmöglich. Ein ununterbrochenes Pochen auf Menschenrechtsverletzungen durch Israel, aufgrund der Besatzung [iv] und anderer „sicherheitspolitischer Maßnahmen“, hat keine Auswirkung. Israel verteidigt sich gegen pauschalisierende Forderungen nach Einhaltung aller Menschenrechte, also auch des Abzugs der Besatzung, mit dem Argument der Sicherheit, was vor dem Hintergrund der Geschichte, Geographie und des derzeitigen politischen Sentiments der Araber (auch außerhalb Palästinas) verständlich ist.
Menschenrechte anders denken
Das Wort „Menschenrechtsverletzung“ hat in der Wahrnehmung der meisten Menschen hier viel an Bedeutung verloren. Aussagen wie „Menschenrechte werden systematisch verletzt“[v] jucken keinen (mehr) – um es brutal auszudrücken. Es erscheint mir allerdings wichtig zu erwähnen, dass nicht nur Israelis durch die Besatzung der palästinensischen Gebiete gegen Menschenrechte verstoßen, sondern auch die Palästinensischen Autoritäten mehrere missachten, unter anderem die Pressefreiheit.[vi]
Der Anspruch der Menschenrechte ist ja, dass sie den Menschen dienen und nicht nur den Schlagzeilen in westlichen Medien. Dafür allerdings müssen sie anders gedacht werden, scheint es mir.
Eine wichtige Differenzierung, die dabei gemacht werden sollte, ist zwischen Rechten, welche zwar wichtig, aber nicht lebensnotwendig sind, und solchen, deren Verletzung verheerende Folgen hat, und zwar nicht nur im gesellschaftlichen und abstrakten Sinn, wie etwa Pressefreiheit, sondern im physischen Sinne, wie etwa der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, „administrative detention“ genannt [vii].
Es ist wichtig zu erwähnen, dass dieser Unterschied auch vom israelischen Obersten Gerichtshof, zumindest in Grundzügen angewendet wird, wie das Urteil von Amona zeigt. Hier wurde geurteilt, dass die Siedlung auf dem Grundstück eines Arabers gebaut wurde und deswegen geräumt werden muss.[viii]
Ein anderer Fall ist Hebron, wo durch Kontrollen die Personenfreizügigkeit eingeschränkt wird [ix]. Die eigentlich große Problematik für die Menschen ist, dass mehrere hunderte kleine Läden, oft die einzige Lebensgrundlage der Menschen, geschlossen worden sind [x]. Dies wäre ein klarer Fall der Differenzierung, wo man, auch als patriotischer Israeli, die erste Handlung zwar billigen, die zweite aber als inakzeptabel erklären muss.
Essentielle Rechte und wie man damit umgeht
Ein vorsichtiger Vorschlag wie diese essentiellen Rechte aussehen könnten, wäre unter anderem ein kompaktes Paket der folgenden Artikel der allgemeinen Menschenrechtserklärung: Artikel 3 („Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“), 17 (Recht auf Eigentum) und Artikel 9 (Schutz vor Verhaftung und Ausweisung) sowie die Versicherung zur Einhaltung derselben, etwa durch Artikel 8 (Anspruch auf Rechtsschutz).[xi] Diese Rechte könnte man unter dem Begriff „Lebensrechte“ subsumieren, da sie die grundlegendsten Umstände umfassen, welche man zum Leben braucht.
Lebensrechte in dieser Art zu formulieren nimmt natürlich Staaten mit einer schmutzigen Menschenrechtsvergangenheit und/oder -gegenwart nicht aus der Verantwortung. Diese Vergehen sind immer noch inakzeptabel. Die Einführung einer essentiellen Ebene von Menschenrechten würde eine Linie markieren, die zu passieren nicht nur inakzeptabel ist, sondern ein unentschuldbares Vergehen. Was geschieht, ist dann für diese Menschen absolut untragbar und nicht mehr nur noch eine massive Unannehmlichkeit
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Diese sehr pragmatische Zugangsweise kommt davon, dass wir in dieser höchstwahrscheinlich unveränderlichen Lage trotzdem effektiv die Menschen vor Ort schützen und nicht nur auf abstrakte Lösungen pochen wollen.
Für den Israel-Palästina-Konflikt konkret kommt mir daher folgende Haltung am meisten zielführend für die lokale Bevölkerung vor:
Im Allgemeinen sind von den Israelis die Einhaltung aller Menschenrechte und der Beginn eines ernsthaften Friedensprozesses zu fordern. Das schließt auch politische Entscheidungen in Vorbereitung auf eine schlussendliche Lösung ein, wie etwa, dass viele ökonomische Hindernisse für Palästinenser oder deren Steuerkontrollen aufgehoben werden.
Allerdings müssen auch Forderungen gestellt werden, meiner Meinung nach sollten diese sogar forciert werden, welche die Israelis tatsächlich umsetzen können. Speziell würde das bedeuten, dass das Militärrecht, welches auf 60 Prozent der Palästinensischen Gebiete (Area C) angewandt wird [xii], aufgehoben oder modifiziert wird. Die essentiellen Menschenrechte müssen in der Praxis bindend gemacht werden und dafür muss man diese konkret ansprechen.
Schlussendlich kann man anmerken, dass in viel zu vielen Ländern der Erde Menschenrechte systematisch missachtet werden [xiii]. Generelle Vorwürfe gegen diese Länder, dass diese Zustände inakzeptabel sind, sind zwar wichtig und sollten fortgesetzt werden, Auswirkungen haben sie allerdings meistens keine. Mein Plädoyer wäre deswegen auch hier, dass man selektiver in Anschuldigungen wird und die essentiellen Menschenrechte hervorstreicht. Mit anderen Worten, dort wo man Menschenrechte am meisten braucht, müssen wir einen radikal anderen Zugang zu ihnen finden, der den Menschen dient. Wir brauchen eine Sprache, ein Framework mit denen wir eine klare Linie ziehen können wo es nicht nur unfassbar für die internationale Gemeinschaft sondern auch untragbar für die tatsächlichen Menschen ist.
Anmerkung: Jakobs Artikel hat im Projektteam für einige Diskussionen gesorgt. Wir möchten hier anmerken, dass das Projektteam und die zuständige Arbeitsgruppe im Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz dem Inhalt des Artikels nicht zur Gänze zustimmen können und laden auch euch ein, zu diesem Thema zu kommentieren und diskutieren.