
Fehler im System
Bei nahezu allen islamistischen Terroranschlägen seit 9/11 waren die TäterInnen als Verdächtige den Behörden bekannt, trotzdem wird versucht, nach dem Anschlag in Paris die bereits rigorose Überwachung durch westliche Geheimdienste auszuweiten. Dass das Problem in der Datenverarbeitung und nicht in der Datenerhebung liegt, wird ignoriert.
Das Thema „Terrorismus – Prävention durch Spionage“ hält sich hartnäckig in den Medien. Seit dem Anschlag auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt in Paris im Jänner dieses Jahres gibt es wieder politische Vorstöße zur Ausweitung der flächendeckenden Überwachung. Indem geheimdienstliche Einrichtungen alle ausspionieren, sollen mögliche geplante Terrorakte verhindert werden. Dass diese banale Logik, die sich in der Vergangenheit, worauf ich später noch eingehen werde, nicht bewährt hat, auf keine großen Proteste stößt, lässt sich vermutlich mit der paranoiden Panik vor Anschlägen in der Bevölkerung erklären. Die Beschneidung der persönlichen Rechte wird akzeptiert, wenn das zur Sicherheit beiträgt. Dieses Prinzip wurde und wird in Diktaturen als Rechtfertigung für deren Überwachungssystem verwendet. So wird z.B. von den Machthabern eine Bedrohung durch eine gewisse (Rand-)Gruppe vorgegaukelt, um Angst im Volk zu erzeugen
. Das Regime selbst stellt sich als Retter dar, der die Bevölkerung vor dieser Gefahr beschützt und von ihr befreit. So waren die Jüdinnen und Juden, denen auch die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre angelastet wurde, und die KommunistInnen plötzlich „schuld“ an der Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg, was als sogenannte „Dolchstoßlegende“ bekannt ist. Der Nationalsozialismus erfand viele solcher Verdrehungen der Geschichte, um den Hass gegen politische GegnerInnen und Minderheiten, die zu Sündenböcken gemacht wurden, zu schüren, denn diese klaren Feinbilder stärkten die Macht des Regimes. Natürlich ist die Situation heute eine andere, ich beschuldige keineswegs westliche Regierungen des Faschismus, und die Gefahr, die durch den radikalen, militanten Islamismus ausgeht, ist sicher keine Erfindung dieser, aber es ist interessant zu sehen, dass sich lupenreine Demokratien wie die USA, das Vereinigte Königreich und Deutschland einer derartigen Überwachung, die früher eher auf Diktaturen beschränkt war, bedienen.
Flächendeckende Überwachung – ein triviales Konzept
Nicht nur im Hinblick auf die Grund- und Menschenrechte ist diese systematische Überwachung problematisch, sondern auch aufgrund ihrer fehlenden Effizienz und des schamlosen Missbrauchs zur Spionage. Sie bedeutet einen demokratiepolitischen Rückschritt, der Parallelen zur Wiedereinführung der Folter aufweist, die ebenfalls auf Diktaturen beschränkt erschien, aber nach den Anschlägen vom 11. September in der westlichen Welt, insbesondere (und auch hauptsächlich) in den USA, wieder „salonfähig“ geworden ist. Sowohl der Einsatz von Folter als auch die uneingeschränkte Überwachung verletzen nicht nur die Würde und Rechte jedes Menschen, sie sind zudem auch ineffizient, weil die wichtigen Daten in der Informationsflut untergehen: Die Behörden erhielten vor 9/11 wichtige Informationen, die, wenn sie richtig verarbeitet worden wären, die Katastrophe vielleicht verhindern hätten können. VerschwörungstheoretikerInnen mögen das als bewusste Entscheidung deuten, aber viel mehr zeigt das die Schwäche der Geheimdienste, die gesammelten Informationen auch richtig zu deuten und auszuwerten. Aber anstatt die Verarbeitung der Daten zu verbessern, wurde deren Erhebung deutlich ausgebaut. Auch die Attentäter von Paris und Kopenhagen waren behördlich bekannt. Eine gezieltere Überwachung hätte vielleicht diese tragischen Ereignisse verhindern können… oder auch nicht, denn das ist auch eine wichtige Lehre, die man aus vergangenen Anschlägen ziehen sollte: Selbst mit dem idealen Überwachungssystem können nicht alle Terrorattacken verhindert werden, weshalb sich die westlichen Demokratien weit intensiver mit den Ursprüngen von Terrorismus auseinandersetzen und wirksame Ansätze zur Bekämpfung von Radikalisierung suchen sollten. Denn wenn ein Anschlag geplant wird, ist es schon zu spät. Dann sind Menschen schon dazu bereit für ihre fundamentalistischen Ideologien die Menschen- und Grundrechte zu missachten und viele andere bzw
. oft auch ihr eigenes Leben zu opfern.
Filmtipp zum Thema: Oscar-prämierte Dokumentation „CITIZENFOUR“ von Laura Poitras über Edward Snowden und den NSA-Skandal.