
I decided to disappear
„I was running away from death and I was facing this trip. It was a suicide mission.“ – Er verstummt. Es ist deutlich zu erkennen, wie schwer es ihm fällt, darüber zu sprechen. Dennoch hat er sich zu einem Interview bereiterklärt, also sitzen wir nun hier: im Grazer Stadtpark auf einer Bank. Sein Blick trübt sich als ich meine Fragen stelle. Er ringt zwar mit sich, doch beschließt sich für mich an den schlimmsten Teil seines Lebens zu erinnern. Getötet wird er hier zumindest nicht.
Er schwärmt von seinem Leben auf dem ländlichen Bauernhof seines Vaters, weit entfernt von der 5 Millionen Einwohnerstadt Lagos. Damals hat er sich wohl nicht gedacht, dass er eines Tages Zeitungsverkäufer in Österreich sein würde.
Bereits im Alter von 18 Jahren gründete er seinen eigenen Fotobetrieb und machte so sein Hobby zum Beruf. Über die Frage, wie er als Kind gerne seine Freizeit verbrachte, muss er nicht lange nachdenken: Fußballspielen, das war seine Leidenschaft. Doch auch die Aufgabe im Wald nach Tieren zu jagen, um so Geld für Kleidung und Haushaltswaren zu verdienen, gehörte zu seinem alltäglichen Leben. Er erzählt mir von seiner Schule und seinen FreundInnen, doch ich muss ihn – so leid es mir tut – zurück zum Thema bringen. Zu wenig zu essen hat seine Familie nämlich nie gehabt, weshalb ich nicht verstehen kann, warum er Afrika verlassen, warum er diese lange und gefährliche Reise nach Österreich auf sich genommen hat.
Ein trauriger Ausdruck huscht über sein Gesicht, doch er fasst sich schnell. Stolz berichtet er von seinem Betrieb und wie erfolgreich er gelaufen war
. Doch dies war auch der Grund dafür, dass eine kriminelle Bande namens „Amrobas“ auf ihn aufmerksam wurde – ins Detail möchte er nicht gehen. Verzweifelt erzählt er, wie die Situation sich mehr und mehr verschlimmert hatte. Das Risiko, auch nur am Abend mit dem Auto nach Hause zu fahren, war zu groß gewesen. Ja, mehrere seiner Freunde sind heute nicht mehr am Leben. Anfangs hatte er dennoch die Hoffnung, bleiben zu können, die Hoffnung, alles würde wieder gut werden und er müsste seine Familie nicht verlassen. Doch dann änderte sich alles…
Nicht nur ihm wurde Grausames angetan – auch sein Umfeld war in großer Gefahr. Er kann es kaum in Worte fassen, also deutet er an, wie seiner Sekretärin mit einem Messer der Arm abgetrennt worden war. Der Moment, eine Entscheidung zu treffen, war gekommen. Er schaut mir in die Augen und meint, es hätte nur einen einzigen Weg gegeben: „I decided to disappear.“
Nur mit einem Koffer und etwas Essen flüchtete er im Alter von 23 Jahren – zuerst mit dem Flugzeug, dann zu Fuß nach Marokko. Dort konnte er mit seinem zuvor erworbenen Visum zwar legal bleiben, doch sein Ziel hatte er bei Weitem noch nicht erreicht. Er beschreibt in Gedanken versunken, als würde er all dies wieder vor sich sehen, wie er fünf Monate lang in einem Camp, einem alten, halb verfallenen Hotel, mit sechs weiteren Personen in einem Raum geschlafen hat. Nachts war das Wasser die Wände heruntergeronnen. Es ist ihm deutlich anzusehen, wie schwer es ihm fällt in diese Erinnerung einzutauchen. Verständlich. Dennoch setzt er seine Erzählung fort. Er berichtet, wie er gemeinsam mit neun anderen Personen auf ein aufblasbares Gefährt, ähnlich einer Luftmatratze, gesetzt wurde. Ein kräftiger Schwimmer sollte sie mitten in der Nacht 45 Minuten lang bis zur Küste Spaniens vor sich herschieben. Weit entfernt von jeglichen Blicken der Polizisten. Auf meine Frage, wie er sich mitten am Meer auf diesem „Plastikding“ gefühlt hat, nimmt er plötzlich eine aufrechte Haltung an, schließt die Augen, faltet seine Hände und sagt: „All I did was just to close my eyes.“ Danach spricht er ganz ernst weiter: „Any minute you can die.“ Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, da mir die Gefahr der Situation bewusst wird. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Der Schwimmer stellte sich als Betrüger heraus, der vorhatte seine Bezahlung entgegenzunehmen und die Flüchtlinge auf offener See ertrinken zu lassen. Hätte nicht genau an der Stelle, an der er sie mit aufgestochenem Luftkissen zurückgelassen hat, ein Fels aus dem Wasser geragt… sie wären nicht mehr am Leben. Es wird deutlich, wie stark meinen Gesprächspartner diese Situation – der schlimmste Teil seiner Flucht – mitgenommen hat. Noch heute hat er Albträume, erzählt er schaudernd.
Doch beim zweiten Versuch lief glücklicher Weise alles nach Plan; er kam sicher in Europa an und setzte seine Reise von Spanien nach Österreich mit dem Zug fort. Lachend berichtet er, dass er nicht mehr Zeit „on the way“ verbringen wollte, als unbedingt notwendig war. Er dachte nur daran, seine Freunde und Freundinnen in Österreich aufzusuchen
.
Meine Frage, wie sein erster Eindruck von der österreichischen Kultur und Gesellschaft war, kann er nur positiv beantworten. Er wurde, sobald er seine Geschichte dargelegt hatte, für ein halbes Jahr in den Bergen versteckt. „I felt that I was safe here“, meint er mit leuchtenden Augen.
Sobald die Frage, wo er bleiben sollte, geklärt war, begann er als Mitarbeiter eines Straßenmagazins zu arbeiten, was sich bis heute nicht geändert hat. Doch noch waren nicht alle Probleme beseitigt. Die Situation in Nigeria verschlechterte sich zunehmend, weshalb seine Frau nach vier Jahren ebenfalls flüchtete und nun bei ihm hier in Österreich lebt. Die beiden haben bereits Kinder, die begeistert Kindergarten und Schule besuchen. „They nearly speak as good as you“, erzählt er freudestrahlend über ihre Deutschkenntnisse. Bis vor ein paar Monaten konnte die junge Familie dennoch nicht ohne Angst leben, denn trotz zahlreicher Empfehlungsschreiben von FreundInnen erhielten sie einfach keine Aufenthaltsbestätigung. „Every day I was afraid that they were taking me back“, erinnert er sich an diese Zeit.
Heute kann er sich, nach 10 Jahren Warten, endlich Besitzer einer österreichischen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung nennen. Daher hat er sich zum Ziel gemacht, sein Deutsch zu perfektionieren und einen richtigen Job, wie Maler oder Lastwagenfahrer, auszuüben. Begeistert erzählt er darüber, wie er früher in Afrika geholfen hatte, wo und wie auch immer er nur konnte, und dass er dies auch in Österreich gerne tun würde. Die neue Möglichkeit dazu möchte und wird er auf jeden Fall ergreifen, fügt er lächelnd hinzu.
Abschließend möchte ich noch eines wissen: Gibt es Tage, an denen er seine Entscheidung ein neues Leben zu beginnen bereut? Die Antwort ist eindeutig. Er und seine Familie werden hier eine bessere Zukunft haben, als sie sich in Nigeria jemals hätten wünschen können. Daher ist er sich sicher: „I hope nothing will ever take me back.“